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Tacheles Rechtsprechungsticker KW 47/2024
1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Sozialhilfe ( SGB XII )
1.1 BSG, Urt. v. 08.05.2024 - B 8 SO 3/23 R - Vorinstanz: LSG NRW, Urt. v. 15.12.2022 - L 9 SO 240/21 - in Tacheles Rechtsprechungsticker KW 42/2023
Sozialhilfe - Schulweg - Beeinträchtigung - Eingliederungshilfe - Teilhabe an Bildung
Kann ein behinderter Schüler, der selbst nicht in der Lage ist, seinen Schulweg zu bewältigen, auch für den Besuch einer weiterführenden Schule noch zumutbar darauf verwiesen werden, sich von den Eltern mit dem Pkw zur Schule fahren zu lassen?
BSG: Schwerbehinderte Schülerin kämpft um Taxibeförderung zum Gymnasium - Bundessozialgericht bejaht Anspruch auf Taxi - Fahrkosten als Eingliederungshilfe zur Teilhabe an Bildung
Leitsatz Verein Tacheles e. V.
1. Wenn gehbehinderte Schüler nicht anders nicht zur Schule kommen können, muss die Sozialhilfe ihnen auch Fahrten mit dem Taxi bezahlen.
2. Der Schulbesuch gehört zum Recht auf Teilhabe zur Bildung, für das die Behörde im Wege der Eingliederungshilfe unabhängig vom Einkommen der Eltern aufkommen muss.
Orientierungshilfe Verein Tacheles e. V.
1. Bei den Kosten für den Schulweg handelt es sich nicht um Leistungen, die als sogenannter Kernbereich der pädagogischen Tätigkeit allein in der Verantwortung des Schulträgers liegen. Auch die vom Gesetzgeber nach SGB 2 beziehungsweise dem 3 Kapitel des SGB 12 vorgesehenen Bildungs- und Teilhabepakete, die ebenfalls Leistungen für Schülerinnen und Schüler beinhalten, die zum Erreichen der nächstgelegenen Schule des gewählten Bildungsganges finanziell auf Schülerbeförderung angewiesen sind, schließen die Leistungen der Eingliederungshilfe nicht aus.
2. Sie erfassen nur Schulwegkosten, die nicht aufgrund einer Behinderung, sondern zum Beispiel aufgrund großer Entfernung zwischen Elternhaus und Schule veranlasst sind. Leistungen, die zum Ausgleich spezifisch behinderungsbedingter Nachteile bei der Teilhabe an Bildung erforderlich sind, sind davon nicht erfasst.
3. Auch die Eltern werden weder mit diesen zusätzlichen Kosten belastet noch kann von ihnen verlangt werden, die Beförderung selbst durchzuführen.
Jetzt Volltext da: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/176807
Praxistipp: Erstattung von Taxikosten für Schulfahrten, ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt, Kiel
weiter: https://sozialberatung-kiel.de/2024/06/12/erstattung-von-taxikosten-fur-schulfahrten/
2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Bürgergeld ( SGB II )
2.1 LSG BW, Urt. v. 17.07.2024 - L 12 AS 2018/23 – anhängig beim BSG Az.: B 4 AS 22/24 R - Termin unbekannt
Bürgergeld - vorläufige Leistungsbewilligung - Rücknahme bzw Aufhebung für die Vergangenheit - Ablauf des Bewilligungszeitraums Verdrängung der §§ 45, 48 SGB 10 durch § 41a Abs 3 und 5 SGB II
Bürgergeld: Erstattungsbescheide des Jobcenters waren rechtswidrig, denn eine Rücknahme und Erstattung nach §§ 45, 48 SGB X scheidet aus, da nach § 41a Abs. 3 SGB II eine endgültige Bewilligung vorgesehen ist und dies die speziellere Regelung darstelle.
Bei einer vorläufigen Leistungsbewilligung des Jobcenters nach § 41a SGB 2 beurteilt sich die Rechtmäßigkeit einer geänderten Leistungsbewilligung ausschließlich nach den für die abschließende Entscheidung nach vorangegangener vorläufiger Bewilligung maßgebenden Vorschriften des § 41a Abs 3 und 5 SGB 2.
Für eine Anwendung der §§ 45, 48 SGB 10 ist zu Ungunsten des Leistungsempfängers nach Ablauf des Bewilligungsabschnitts und damit mit Wirkung für die Vergangenheit insofern kein Raum (zur Vorgängerregelung in § 40 Abs 1 S 2 Nr 1a SGB 2 aF iVm § 328 SGB 3 vgl BSG vom 29.4.2015 - B 14 AS 31/14 R -).
Eine Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit kommt allein in Betracht, wenn dies zugunsten der leistungsberechtigten Person nach § 44 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 bzw. nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB X erfolgt .
Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers, der eine Anwendung der §§ 45, 48 SGB X zu Ungunsten der leistungsberechtigten Person mit Wirkung für die Vergangenheit als nicht angezeigt sieht, da die vorläufige Entscheidung sich nicht im Wege der Aufhebung, sondern der abschließenden Entscheidung erledigt.
An dieser Einschätzung vermag auch § 67 SGB II nichts zu ändern.
Die Revision wird im Hinblick auf das Verfahren B 7 AS 19/24 R zugelassen.( Zum Verhältnis (gegebenenfalls antragsabhängiger) abschließender Entscheidungen nach vorläufiger Bewilligung von Leistungen gemäß § 41a SGB II zur Rücknahme von Bescheiden nach § 48 SGB X bei einer Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen während des Bewilligungszeitraums).
2.2 LSG BW, Urt. v. 04.04.2023 - L 2 AS 3140/22 -
SGB II: Auch psychische Erkrankung schützt nicht vor Rückforderung von ALG II bei verschwiegenem Vermögen
Zu mindestens dann nicht, wenn die Betroffene erst zweieinhalb Jahre nach Erlass des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides erstmals vorgetragen hat, dass die Diagnosen auf psychiatrischem Fachgebiet auch dazu geführt hätten, dass das subjektive Einsichtsvermögen relevant beeinträchtigt gewesen wäre bei Antragstellung auf ALG II.
Psychische Erkrankungen müssen vom Antragsteller durch ärztliche Befunde bewiesen werden, hier verneinend.
Quelle: www.landesrecht-bw.de
3. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Bürgergeld ( SGB II )
3.1 SG Berlin, Beschluss v. 04.09.2024 - S 142 AS 3881/24 ER - L 14 AS 853/24 B ER
Bezug von Bürgergeld nach § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II führt nicht automatisch zur Versicherungspflicht
Der Anspruch bzw. der Bezug von Bürgergeld nach § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II zieht keine eigenständige Versicherungspflicht zur Kranken- bzw. Pflegeversicherung nach sich.
Jobcenter: Keine Fiktion der Erwerbsfähigkeit nach § 44a SGB II bei Bürgergeldbezug nach § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II
Ein Bürgergeldempfänger, welcher Leistungen nach § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II (früher Sozialgeld) bezieht und in einer Bedarfsgemeinschaft mit einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zusammen lebt ohne Familienversicherung, hat keinen Anspruch auf Versicherungspflicht zur Kranken- bzw. Pflegeversicherung vom Jobcenter, denn eine Fiktion der Hilfebedürftigkeit auf der Grundlage des § 44a Abs. 1 SGB II kommt nicht in Betracht.
Quelle: 142. Kammer des SG Berlin
3.2 SG Düsseldorf, Beschluss v. 06.05.2024 - S 25 AS 2400/23 ER -
Bürgergeld: Jobcenter dürfen keine unnötigen Unterlagen fordern
Gericht spricht Bürgergeld zu im Eilverfahren wegen rechtswidriger Verweigerungshaltung des Jobcenters
Jobcenter muss Bürgergeld zahlen, denn die vom JC geforderten Unterlagen zum Nachweis der Hilfebedürftigkeit der Antragsteller sind nicht erforderlich ( wie die vom Gesetz nicht vorgesehene aktuelle Hauseigentümerbescheinigung, Auszug aus dem Mieterkonto, Nachweis ob die Scheidung eingereicht wurde ).
Hier wurde vom Jobcenter die Gewährung von Bürgergeld ausgeschlossen, weil die Antragsteller nach Ansicht des Jobcenters die erforderlichen Unterlagen zum Nachweis ihrer Hilfebedürftigkeit nicht vor gelegt wurden, wie Kfz-Schein, Nachweis für Kfz-Versicherung, Krankenversicherung.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
Hinweis Redakteur:
in 2. Instanz hat das Jobcenter gegen den Hilfebedürftigen gewonnen – besondere Eilbedürftigkeit hinsichtlich der Regelleistung und Kosten der Unterkunft wurde verneint - L 7 AS 645/24 B ER
4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht ( SGB 3 )
4.1 LSG Hamburg, Urt. v. 19.06.2024 - L 2 AL 14/23 D - BSG, Beschluss v. 01.08.2024 - B 11 AL 12/24 AR -
ALG 1: Kein Gründungszuschuss für eine selbstständige Tätigkeit als Versicherungsvertreter, weil es fehlet an der rechtzeitigen Einreichung der fachkundigen Stellungnahme bei der Agentur für Arbeit( vgl. LSG BB, L 14 AL 151/18).
Denn der Nachweis der Tragfähigkeit durch eine Stellungnahme der fachkundigen Stelle ist - zeitnah zur Antragstellung und vor der Aufnahme der hauptberuflichen, selbständigen Tätigkeit durch die Antragsteller zu erbringen (LSG Berlin Brandenburg, Urteil vom 5. November 2020 – L 14 AL 151/18; vgl. auch BSG,Urteil vom 5. Mai 2010 – B 11 AL 28/09 R - ).
Praxistipp: ebenso
LSG BB, Urt. v. 07.08.2024 - L 18 AL 9/22 -
Die Beendigung der Arbeitslosigkeit tritt durch vorbereitende Handlungen der Existenzgründung nur ein, wenn der Gründer für die angestrebte selbstständige Tätigkeit bereits in einem zeitlichen Umfang tätig ist, die ihn 15 Stunden oder mehr pro Woche in Anspruch nimmt (so auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10. Juni 2016 – L 14 AL 243/12 –).
Eine Vorbereitungshandlung in diesem Umfang wird allerdings nicht verrichtet, wenn ein Gründer mit zeitlichem Abstand nach und nach die Voraussetzungen dafür schafft, zu einem späteren Zeitpunkt eine selbstständige Tätigkeit aufnehmen zu können (vgl. BSG, Urteil vom 9. Juni 2017 – B 11 AL 13/16 R - ).
Quelle: LSG Hamburg
4.2 LSG NRW, Urt.v. 13.05.2024 - L 20 AL 201/22 - Revision zugelassen
Kurzarbeitergeld: Arbeitgeberrisiko in der Pandemie
Der Arbeitgeber trägt das Risiko des rechtzeitigen Zugangs der Anzeige über Arbeitsausfall bei der Agentur für Arbeit bei Postversand.
Quelle: Presseinfo des LSG NRW: https://www.lsg.nrw.de/behoerde/presse/Pressemitteilungen_des_Jahres_2024/Aktuelle_Pressemitteilungen/Kurzarbeitergeld_-_Arbeitgeberrisiko_in_der_Pandemie/index.php
Volltext jetzt hier: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/index.php/node/176910
5. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zur Sozialhilfe ( SGB XII )
5.1 LSG Sachsen, Beschluss v. 06.09.2024 - L 8 SO 34/24 B ER -
Leitsätze
Zum einstweiligen Rechtschutz gegen die von dem Sozialhilfeträger angeordnete sofortige Vollziehung eines Bescheides über die Aufhebung der Bewilligung eines Persönlichen Budgets nach Kündigung der Zielvereinbarung bei Fehlverwendung der bewilligten Mittel.
Quelle: www.landesrecht-sachsen.de
5.2 SG Lüneburg, Urt. v. 11.09.2024 - S 38 SO 73/20 -
Eingliederungshilfe: Gewährung eines Betrages für den von dem Pflegediens als Servicepauschale angesetzten Betrag für die Verwahrung, Bereitstellung, Bestandsüberprüfung und Besorgung von Medikamenten
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Aufgaben im Vorfeld zur Medikamentengabe, also das Beschaffen von Medikamenten, deren Verwahren sowie die Bestandsprüfung, können solche der kompensatorischen Assistenz sein, wenn der oder die Betroffene nicht in der Lage ist, diese Aufgaben selbständig zu erledigen.
5.3 LSG Hessen, Urt. v. 19.08.2024 - L 4 SO 62/20 -
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Der Rechtsgedanke des ab 1. Juli 2017 geltenden § 42a Abs. 3 SGB XII kann nicht im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung in die bis zum 30. Juni 2017 geltende Fassung des § 35 SGB XII hineingelesen werden.
2. Einzelfall eines Scheingeschäfts (Mietvertrag), das keinen Bedarf hinsichtlich der Kosten für Unterkunft und Heizung auslöst.
6. Verschiedenes zum Bürgergeld, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Kinderzuschlag, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher
6.1 OLG Karlsruhe, Urt. v. 05.10.2023 - 12 U 47/23 -
BeA-Störung: Unterwegs muss man kein Fax dabei haben
Rechtsanwalt muss kein Faxgerät mitschleppen
weiter auf: https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/olg-karlsruhe-bea-ersatzeinreichung-dienstreise-fax-anwalt-wiedereinsetzung
Leitsatz www.landesrecht-bw.de
Einem Rechtsanwalt, der sich darauf eingerichtet hat, einen Schriftsatz per beA zu übermitteln, kann im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vorgehalten werden, er hätte sicherstellen müssen, im Störungsfall einen zweiten Versandweg zur Verfügung zu haben (Fax) oder auf einen neuen Versandweg ausweichen müssen, den er vorher noch nicht genutzt hatte (Computerfax).
Praxistipp zum Bürgergeld:
SG Berlin, Beschluss vom 11.10.2024 - S 142 AS 2627/24 -
Flächendeckend unrichtige Rechtsbehelfsbelehrungen der Jobcenter nach dem 01.01.2024 in Deutschland – „einfache“ Signatur beim beA reicht!: Widerspruchsfrist verlängert sich von 1 Monat auf 1 Jahr
6.2 Newsletter – 13 – 2024 – von RA Volker Gerloff
1. Grundleistungen werden zum 1.1.2025 abgesenkt
Das BVerfG steht kurz vor einer Entscheidung zur Frage, ob die Grundbedarfssätze 2018 (und damit in der Fortschreibung bis heute) verfassungswidrig zu niedrig waren und sind (1 BvL 5/21).
Das LSG Niedersachsen-Bremen ist der Auffassung, dass die Grundbedarfssätze verfassungswidrig sind und deshalb wurde diese Frage dem BVerfG vorgelegt (LSG Niedersachsen-Bremen, Vorlagebeschluss vom 26.1.2021 – L 8 AY 21/19).
weiter: https://www.ra-gerloff.de/newsletter/Newsletter-13-2024.pdf
Wichtiger Hinweis: Nicht veröffentlichte Urteile ( gekennzeichnet durch n. v. ), Anmerkungen bzw. Urteilsbesprechungen von Rechtsanwälten, welche wir von Gerichten, Rechtsanwälten oder Privatkunden erhalten, dürfen zitiert werden, aber nur mit Quellhinweis Verein Tacheles, alles andere stellt eine Urheberrechtsverletzung dar. Danke!
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Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock