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Tacheles Rechtsprechungsticker KW 32/2024
1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung ( SGB II )
1.1 BSG, Urt. v. 10.04.2024 - B 7 AS 21/22 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Unterkunft und Heizung - Heizkostennachforderung - Stromkostenguthaben - Energieversorger - interne Verrechnung
Bundessozialgericht: Keine Aufrechnung Strom gegen Gas
Dazu Detlef Brock - Redakteur
1. Bürgergeldempfänger haben Anspruch auf die tatsächlichen angefallenen Heizkosten vom Jobcenter, sofern diese in angemessener Höhe sind, denn zu den Aufwendungen für Heizung gehören auch diejenigen Forderungen, die ein Energieversorgungsunternehmen im Rahmen einer Jahresabrechnung für Wärme erhebt.
2. Kommt es nach Abrechnung der tatsächlich verbrauchten Wärme zu Nachzahlungsverlangen, gehören solche einmalig geschuldeten Zahlungen zum aktuellen Bedarf im Fälligkeitsmonat ( ständige BSG Rechtsprechung )
3. Ein sich aus der Jahresgesamtabrechnung des Haushaltsenergieversorgers ergebender Abrechnungsbetrag für Heizkosten ist auch dann in voller Höhe als Heizkostenbedarf vom Jobcenter zu berücksichtigen, wenn er vom Energieversorger intern mit einem zugleich abgerechneten Guthaben für Stromlieferungen verrechnet wurde (Orientierungssatz Detlef Brock).
4. Stromkosten für den Betrieb der Gastherme als Heizkostenbedarf nur bei tatsächlicher Zahlung dieser vom Leistungsbezieher. Die Berücksichtigung von Stromkosten einer Gastherme als Heizkostenbedarf besteht nur, wenn auch tatsächliche Stromkosten entstanden waren, sprich Stromkosten auch tatsächlich vom Hilfeempfänger bezahlt wurden oder eine Nachforderung von Stromkosten bestanden.
Volltext: www.sozialgerichtsbarkeit.de
Rechtstipp zum SGB XII:
SG Schleswig, Urteil vom 28. September 2017 – S 15 SO 122/16 und bestätigend LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 24. September 2020 – L 9 SO 72/17 – ).
Verrechnet ein Versorger seine Heizkostennachforderung mit einem gleichzeitig bestehenden, aus dem Regelbedarf angesparten Stromkostenguthaben, führt diese Verrechnung nicht zu einem geringeren Bedarf des Leistungsbeziehers für die Heizung.
2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Bürgergeld ( SGB II )
2.1 LSG Bayern, Urt. v. 16.07.2024 - L 7 AS 122/23 - Revision zugelassen
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Der Verzicht auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ist unwirksam iS des § 46 Abs 2 SGB I, wenn durch den Verzicht der im Rahmen einer vorläufigen Bewilligung festgelegte Bewilligungszeitraum verkürzt werden soll und auf diese Weise die Regelungen über die Berechnung von Einkommen aus selbstständiger Arbeit, Gewerbebetrieb oder Land- und Forstwirtschaft (§ 3 Bürgergeld-V) umgangen werden.
Rechtstipp: Sächsisches LSG, Urteil vom 23.6.2022 - L 3 BK 10/21 -
Von einem Verzicht werden allein noch nicht erfüllte oder noch nicht auf andere Weise erloschene sowie zukünftige Einzelansprüche aus dem Recht erfasst. Auf bereits - abgewickelte - Leistungsansprüche kann sich der Verzicht nach § 46 SGB I nicht erstrecken (Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 23.6.2022 - L 3 BK 10/21 - ).
2.2 LSG Sachsen, Urt. v. 30.05.2023 - L 2 AS 677/22 - und - L 2 AS 593/22 -
Geltendmachung von Ansprüchen von eigenen Kindern bei unklarem Aufenthalt
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Für die Frage, ob ein Kind einem elterlichen Haushalt zumindest zeitweilig angehört, kommt es auf die tatsächlichen (faktischen) Verhältnisse an. Entscheidend ist, ob es sich dort dauerhaft und mit nur kurzfristigen Unterbrechungen tatsächlich aufhält. Bestehen ernstliche Zweifel an der Zugehörigkeit zum elterlichen Haushalt, kann die Haushaltszugehörigkeit nicht allein mit Hinweisen auf das elterliche Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht und auf den gegenüber der Meldebehörde verlautbarten Wohnsitz belegt werden.
2. Machen die Eltern als gesetzliche Vertreter Ansprüche des Kindes mit der Begründung geltend, es gehöre ihrem Haushalt an, sind sie für diese anspruchsbegründende Tatsache darlegungs- und beweispflichtig. Mangelnde Mitwirkung bei der Aufklärung eines zweifelhaften Aufenthalts des Kindes geht danach zu Lasten der Leistungsbegehrenden.
2.3 LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 17.06.2024 – L 20 AS 364/24 B ER
Anspruch auf Übernahme von KdU-Leistungen: Bürgergeldempfänger sind nicht verpflichtet, sich dauerhaft in ihrer Wohnung aufzuhalten ( Dr. Jur. Jens-Torsten Lehmann )
Bürgergeldbezieher müssen sich nicht dauerhaft in ihrer Wohnung aufhalten bzw. dort auch tag täglich übernachten ( Verein Tacheles e. V. )
2.4 LSG Hessen, Urt. v. 17.07.2024 - L 6 AS 357/23 -
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Zur Auslegung des Klagebegehrens unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes und dessen Grenzen bei eindeutigen Erklärungen.
3. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Bürgergeld ( SGB II )
3.1 SG Frankfurt (Oder), Beschluss v. 26.06.2024 – S 14 AS 214/24 ER -
rechtswidrige Einstellung von KdU-Leistungen: Zweifel am Aufenthalt in der Wohnung ≠ fehlende Nutzung der Wohnung ( Dr. Jur. Jens - Torsten Lehmann )
Jobcenter: Fehlende Nutzung der Wohnung muss vom Jobcenter nachgewiesen werden – Geringe Verbrauchswerte bei Strom und Gas beweisen nicht die Nicht- Nutzung der Wohnung ( Tacheles e. V. )
3.2 SG Berlin, Beschluss vom 29.07.2024 - S 127 AS 3296/24 ER -
Keine Versagung oder Entziehung bei versagtem Rentenantrag - Ein Beitrag von RA Kay Füßlein
Im vorliegenden Fall ging einiges schief: die Mandantin stellte bei der Rentenversicherung einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente, die jedoch wegen fehlender Mitwirkung versagt worden ist; diese Information erreichte jedoch nur das Jobcenter.
Dieses hat daraufhin die Leistungen nach § 5 SGB II entzogen.
Dies ist rechtswidrig.
Schon nach dem Wortlaut des § 5 SGB II ist dies nämlich nur möglich, wenn ein Antrag des JobCenters vorliegt; dies setzt voraus, dass das JobCenter zur Antragstellung auffordert und dieser Antrag nicht erfolgt.
Wenn ein selbst gestellter Antrag abgelehnt wird, ist der Anwendungsbereich für eine Versagung bzw. Entziehung nicht eröffnet.
Das SG Berlin führt daher in seinem Beschluss zutreffend aus:
weiter bei RA Kay Füßlein: http://www.ra-fuesslein.de/wordpress/?p=1252
4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht ( SGB 3 )
4.1 LSG BW, Urt. v. 29.01.2024 - L 12 AL 2759/23 -
Keine Anwendung der Regelung des § 145 SGB III bei einem Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von mehr als drei Stunden täglich ( vgl. Bayerisches LSG 23.01.2018, L 10 AL 134/15 -) Tacheles e. V.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
- Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe ( SGB XII )
5.1 LSG BW, Urt. v. 20.06.2024 - L 7 SO 1992/23 -
Sozialhilfe: Die Kosten für Sterbeurkunden sind nicht nach § 74 SGB XII anzuerkennen
1. Die Kosten für Sterbeurkunden sind nicht nach § 74 SGB XII anzuerkennen, wenn eine Sterbeurkunde für die Bestattung nicht erforderlich ist, weil gemäß den gesetzlichen Vorgaben zur Bestattung eines Bundeslandes (i.v.F. Baden-Württemberg) bei einem Todesfall der nicht vertrauliche Teil der Todesbescheinigung ausreicht.
2. Bereits zu Lebzeiten an den Erblasser zugestellte Pfändungen gelten weiter, so dass der Klägerin ein Zugriff auf jegliche Bankguthaben des Verstorbenen verwehrt war und es der Rentnerin aus ihrem Renteneinkommen unzumutbar war, die Bestattungskosten zu bezahlen.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
6. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG
6.1 LSG Hamburg, Beschluss v. 24.07.2024 - L 4 AY 8/24 B ER -
Es fehlte in diesem Verfahren bereits an einem Anordnungsgrund - Gericht hat keine Bedenken gegen die Bezahlkarte
Denn das Gericht hält es nicht für überwiegend wahrscheinlich, dass dem Antragsteller wesentliche Nachteile drohen, wenn er vorläufig für die Zeit seines Aufenthalts in der Aufnahmeeinrichtung, in der der notwendige Bedarf durch Sachleistungen gewährt wird, längstens bis zur Entscheidung in der Hauptsache die ihm bewilligten Leistungen für den notwendigen persönlichen Bedarf nach dem AsylbLG auf eine Bezahlkarte erhält, für die eine Bargeldbeschränkung in Höhe von 50 Euro gilt.
Verfassungsrechtlich ist es grundsätzlich zulässig, das Existenzminimum durch Geld- aber auch durch Sach- oder Dienstleistungen zu gewähren (BVerfG, Urteil vom 18.7.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -
Die Bezahlkarte ermöglicht es den Hilfesuchenden, einen Teil der Leistungen für den persönlichen Bedarf in bar abzuheben und mit dem restlichen Teil für Waren und Dienstleistungen überall dort zu bezahlen, wo eine Zahlung mit einer Visakreditkarte möglich ist. Damit verbleiben dem Antragsteller ausreichend Wahlmöglichkeiten, seinen notwendigen persönlichen Bedarf zu decken.
Gericht hat Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt.
Quelle: www.landesrecht-hamburg.de
Rechtstipp:
Das SG Hamburg hält diese pauschale Grenze für rechtswidrig ( SG Hamburg, Beschluss v. 18.07.2024 - S 7 AY 410/24 ER - ).
Das Gericht hat aber keine grundsätzlichen Bedenken gegen die Bezahlkarte.
6.2 Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen – Beschluss vom 17.07.2024 – Az.: L 8 AY 4/24 NZB
Normen: §§ 3, 3a AsylbLG – Schlagworte: Zulassung der Berufung, Verfassungsmäßigkeit der Leistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG, Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Orientierungssatz Redakteur
1. Zulassung der Berufung, zur Rechtsfrage, ob die Höhe der Leistungen zur Deckung des notwendigen persönlichen Bedarfs nach § 3a Abs. 1 AsylbLG, hier für eine alleinstehende Erwachsene (Nr. 1) und ein Kind vor Vollendung des sechsten Lebensjahres (Nr. 6) im Jahr 2019 (in der Fassung vom 13.8.2019) mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) zu vereinbaren ist ( vgl. Vorlagebeschluss des LSG NSB, vom 26.1.2021 (L 8 AY 21/19 ).
Quelle: RA Sven Adam: https://anwaltskanzlei-adam.de/2024/07/20/landessozialgericht-niedersachsen-bremen-beschluss-vom-17-07-2024-az-l-8-ay-4-24-nzb/
6.3 SG Nürnberg, Beschluss vom 30.07.2024 – S 11 AY 15/24 ER -
SG Nürnberg: Bezahlkarte für Leistungsempfänger nach dem AsylbLG rechtswidrig
Das SG Nürnberg verkündet: Pauschale Bezahlkarte ist rechtswidrig, denn die Beschränkung auf 50 Euro Bargeld bedroht das Existenzminimum der Klägerin
Begründung des Gerichts bzw. Anmerkungen von RA Volker Gerloff
- Erhebliche Einschränkungen durch die Bezahlkarte
- Ohne Ermessensausübung im Einzelfall darf keine Bezahlkarte mit pauschalen Einschränkungen
– insbesondere bezüglich des Bargeldzugangs – verwendet werden;
- Die Behörde hatte hier einfach die Karten ausgeteilt und los ging’s; es gab keine Bescheide oder sonst irgendwelche schriftlichen Informationen
Quelle: Newsletter 09- 2024 – RA V. Gerloff: https://www.ra-gerloff.de/newsletter/Newsletter-09-2024.pdf
Lesetipp: Pauschale Bezahlkarte ist rechtswidrig - Eilverfahren am Sozialgericht Nürnberg
weiter hier: https://www.ggua.de/aktuelles/einzelansicht/pauschale-bezahlkarte-ist-rechtswidrig/
Rechtstipp: ebenso SG Nürnberg, Beschluss v. 30.07.2024 - S 11 AY 18/24 ER – verkündet auf www.sozialgerichtsbarkeit.de
7. Verschiedenes zum Bürgergeld, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Kinderzuschlag, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher
7.1 Newsletter von RA Volker Gerloff - 09- 2024 -
mit brand aktuellen Entscheidungen zumAsylrecht:https://www.ra-gerloff.de/newsletter/Newsletter-09-2024.pdf
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Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock