Newsticker
Tacheles Rechtsprechungsticker KW 27/2025
1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem SGB II-Bürgergeld
1.1 LSG Hessen, Urteil vom 21.05.2025 - L 6 AS 444/22 -
LSG Hessen verschärft Ortsabwesenheit für SGB II-Beziehende
Orientierungshilfe Detlef Brock
1. Dafür, dass der Gesetzgeber bei Personen, die unter § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB II fallen, verpflichtet wäre, ein Leben „auf Reisen“ über ein halbes Jahr zu finanzieren, sieht der Senat auch unter Art. 2 Abs. 1 GG keinen Anhalt
2. Sechsmonatige Familienreise ins Heimatland muss das Jobcenter nicht finanzieren.
Dazu Detlef Brock
1. Kein Anspruch einer ein Kleinkind erziehenden Hilfebedürftigen bei Wahrnehmung der Elternzeit auf Leistungen der Grundsicherung wegen sechsmonatiger Ortsabwesenheit ( anders LSG BB, L 34 AS 1030/11 - ).
2. Hilfebedürftige in Elternzeit sind bei nicht genehmigter Ortsabwesenheit des Jobcenters von Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen ( anders SG Karlsruhe, S 5 AS 4172/10).
Leitsatz www.sozialgerichtsbarkeit.de
§ 7 Abs. 4a SGB II in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung findet als Ordnungsvorschrift zur Missbrauchskontrolle auch auf solche erwerbsfähige Leistungsberechtigte Anwendung, die sich nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB II aktuell dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stellen müssen.
Hinweis Redakteur :
Entscheidung des LSG Hessen erging zur Altfassung des § 7 Abs. 4a SGB II - Hartz IV. Beim Bürgergeld gilt jetzt § 7b SGB II.
1.2 LSG Celle, Urteil vom 12.09.2024 - L 6 AS 59/24 - Beschwerde des Klägers ablehnend BSG, Beschluss vom 24.April 2025 - Az: B 4 AS 208/24 BH
Bezieher von Bürgergeld haben keinen Anspruch auf finanzielle Mittel vom Jobcenter zur Ausgestaltung des Weihnachtsfests
Dazu Detlef Brock
1. Weder handelt es sich dabei um eine Erstausstattung der Wohnung, noch sei ein Mehrbedarf dafür im SGB II vorgesehen.
2. Es sei nicht Aufgabe der Behörden, Familienreisen zu Verwandten über Weihnachten zu finanzieren, noch Geldmittel zur Verfügung zu stellen für den Kauf von Geschenken.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
1.3 LSG NRW, Urteil vom 11.04.2025 - L 21 AS 426/24 – www.sozialgerichtsbarkeit.de
Pandemie: Erhebliches Vermögen in Höhe von 92.000 € schließt Anspruch auf SGB II – Leistungen aus
Dazu Detlef Brock
1. Der Jobcenter ist in entsprechender Anwendung von Grundsätzen aus dem Wohngeldrecht davon ausgegangen, dass erhebliches Vermögen ab einem Betrag über 60.000 € vorliegt (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28.6.2023 – L 3 AS 3160/21; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.2.2021 – L 7 AS 1801/20 B ),
2. Teilweise wurde - aber auch vertreten, dass im Einzelfall ein höherer Vermögensbetrag unschädlich sein könne (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 21.1.2021 - L 7 AS 5/21 B ER; ähnlich Knickrehm, in: BeckOGK-SGB II, § 67 (Stand 1.6.2021) Rn. 21; Lange, in: Luik u.a., SGB II, 2024 § 67 Rn. 10). Das LSG Niedersachsen-Bremen nennt als Beispiel für einen möglichen Ausnahmefall Betriebsvermögen.
3. In Anknüpfung an die von der Rechtsprechung mehrheitlich gebilligte Praxis der Leistungsträger und unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens bei der Neufassung von § 12 Abs. 4 SGB II, des Umstandes, dass der vom LSG Niedersachsen-Bremen genannte denkbare Ausnahmefall hier nicht vorliegt und des zutreffenden Hinweises des SG, dass Anlass für die Einführung von § 67 SGB II die Abfederung der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie war (vgl. BT-Drs. 19/18107, S. 17 f.), die Hilfebedürftigkeit der Klägerin damit aber in keinem Zusammenhang stand, hält der Senat das zu berücksichtigende Vermögen der Klägerin von über 92.000 € Anfang März 2020 für erheblich.
2. Entscheidungen der Sozialgerichte zum SGB II/ Bürgergeld
2.1 SG Karlsruhe, Beschluss vom 20.06.2025 - S 12 AS 1569/25 -
Zur Beweisvereitelung durch eine Behörde, die dem Gericht die angeforderten Verwaltungsvorgänge nicht vorlegt.
Jobcenter handeln rechtswidrig, wenn sie trotz Aufforderung des Gerichts die Unterlagen des Bürgergeld Empfängers im Eilverfahren - nicht vorlegen
Dazu Detlef Brock
1. Beantragt eine Familie aufgrund der Versagung von ALG 2 und einer akuten Notlage ( Mietzahlung unmöglich wegen Insolvenz und angekündigte Stromsperre sowie 2 minderjährige Kinder im Haushalt ) Bürgergeld im Eilverfahren, ist das Jobcenter verpflichtet, die erforderlichen Unterlagen des Antragstellers dem Gericht vorzulegen.
2. Legt das Jobcenter trotz Aufforderung dem Gericht die Unterlagen nicht vor, handelt es schuldhaft. Das Gericht kann denn die Leistungen aufgrund der Nichtkenntnis der Unterlagen im Einzelfall die Leistungen zum Bürgergeld schätzen, denn das Existenzminimum muss gewahrt bleiben.
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Dem Erfordernis der Glaubhaftmachung ist nach den Rechtsgrundsätzen zur schuldhaften Beweisvereitelung Genüge getan, wenn ein am sozialgerichtlichen Verfahren Beteiligter schuldhaft die Beweisführung der beweispflichtigen Gegenpartei unmöglich macht.
2. Im sozialgerichtlichen Verfahren wegen existenzsichernder Leistungen sind sozial schwache Eilantragsteller nicht gehalten, die zur Glaubhaftmachung ihres Leistungsanspruchs erforderlichen Unterlagen ein weiteres Mal bei Gericht einzureichen, wenn sie diese Unterlagen bereits außergerichtlich bei der zuständigen Behörde eingereicht hatten.
3. In sozialgerichtlichen Eilverfahren wegen existenzsichernder Leistungen dürfen unbemittelte Eilantragsteller darauf vertrauen, dass der behördliche Antragsgegner seine elektronisch geführten Verwaltungsvorgänge dem Gericht unverzüglich vorlegt, weil § 104 Satz 4 Sozialgerichtsgesetz diese behördliche Mitwirkungspflicht vorsieht.
4. Mit einem exekutiven Ungehorsam einer an Recht und Gesetz gebundenen Behörde müssen Eilantragsteller in sozialgerichtlichen Eilverfahren wegen existenzsichernder Leistungen nicht rechnen.
3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht ( SGB III )
3.1 LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 07.05.2025 - L 2 AL 27/22 -
Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs des Klägers aufgrund des Erhalts einer Entlassungsentschädigung ( Tacheles e. V. ).
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Eine wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses gezahlte Entlassungsentschädigung führt zum Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs, wenn die ordentliche Kündigungsfrist für den Arbeitgeber nicht eingehalten wurde.
2. Ein besonderer bzw spezifischer Zusammenhang zwischen der Vorzeitigkeit der Kündigung und den Ansprüchen auf Entlassungsentschädigung ist nicht erforderlich. Dementsprechend ist nicht nur der Teil der Entlassungsentschädigung relevant, der durch eine Anreizvereinbarung zur vorzeitigen Kündigung durch den Arbeitnehmer zusätzlich zu einer bereits zuvor vereinbarten Entlassungsentschädigung wegen ordentlicher Kündigung durch den Arbeitgeber versprochen wurde.
3. Der Ruhenszeitraum wegen Entlassungsentschädigung berechnet sich unabhängig von der tatsächlichen Arbeitslosigkeit.
Praxistipp a. Auffassung
wie hier Schmitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 3. Aufl. [Stand: 15. Januar 2023], § 158 Rn. 24; Scholz in: Heinz/Schmidt-De Caluwe/Scholz, SGB III, 7. Aufl. 2021, § 158 Rn. 24; Valgolio in: Hauck/Noftz [Stand 2. Ergänzungslieferung 2025], § 158 SGB III Rn. 43).
4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe ( SGB XII )
4.1 LSG Schleswig-Holstein, Urt. v. 11.09.2024 - L 9 SO 11/21 - Revision zugelassen
Leistungen in Formen ambulanter betreuter Wohnmöglichkeiten bei Pflegebedürftigkeit
Sozialhilfe: Ambulant betreutes Wohnen i.S. des § 98 Abs. 5 SGB XII ist nicht gegeben bei Unterbringung des Hilfeempfängers in dem Haushalt seiner Tochter
Dazu Detlef Brock
1. Die Unterbringung des Hilfeempfängers in dem Haushalt seiner Tochter ist nicht als ambulant betreute Wohnform anzusehen. Zwar hat das BSG vom 30. Juni 2016 zum Az. B 8 SO 6/15 R - klargestellt, dass auch eine pflegerische Versorgung die Anforderungen an eine ambulant betreute Wohnform erfüllen kann.
2. Dem schließt sich die Kammer ausdrücklich an. Gleichwohl ist zu fordern, dass die Qualität der Leistungserbringung gesichert ist (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 20. Dezember 2016 - L 8 SO 119/15 - ).
3. Dies kann vorliegend bei einer Betreuung durch die Tochter des Hilfeempfängers nicht festgestellt werden. Der Hilfeempfänger wurde lediglich in den Haushalt seiner Tochter eingebunden und versorgt. Eine fachliche Betreuung kann darin nicht gesehen werden.
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Ausschließlich durch einen ambulanten Pflegedienst erbrachte Pflegeleistungen, die der Verselbständigung im eigenen, familiär geprägten Wohn- und Lebensumfeld dienen, sind bei Zugrundelegung höchstrichterlicher Maßstäbe als Leistungen in Formen ambulanter betreuter Wohnmöglichkeiten i.S. des § 98 Abs. 5 SGB XII zu qualifizieren.
Wird die Pflege durch Angehörige geleistet und Pflegegeld gewährt, stellt dies keine Leistung in Form ambulanter betreuter Wohnmöglichkeiten dar. Das gilt auch dann, wenn parallel teilstationäre Leistungen im Rahmen der Tagespflege erbracht werden.
4.2 SG Hannover, Urteil vom 12. Juni 2025 - S 4 SO 103/22 - (nicht rechtskräftig)
Dazu Detlef Brock
1. Kein persönliches Budget für Fitnessstudio und Kampfsportschule
Keine Tagesstruktur durch Hantel und Kampfsport – Sozialgericht weist Klage auf persönliches Budget für Fitnessstudio und Kampfsportschule ab, denn die an einer paranoiden Schizophrenie leidende Klägerin konnte zeitweise noch an sportlichen Maßnahmen selbstständig teilnehmen.
Somit waren die Voraussetzungen für eine tragfähige Tagesstruktur, ein Zusammenspiel verschiedenster Alltagskompetenzen wie regelmäßiger Schlafrhythmus, Körperpflege, Haushaltsführung und soziale Interaktion - nicht gegeben.
Praxistipp
SG München, Urteil vom 30.04.2025 – S 46 SO 72/24 – Kosten eines Fitnessstudios müssen Bezieher von Bürgergeld aus dem Regelsatz bezahlen.
5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG
5.1 LSG NSB, Beschluss v. 06.06.2025 - L 8 AY 26/25 B ER -
Dazu Detlef Brock
1. Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs 3 AsylbLG
Amtlicher Leitsatz
1. Zu den Anforderungen einer Anhörung zu einer Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG.
2. Die Rücknahme einer Leistungsbewilligung nach dem AsylbLG gemäß § 9 Abs 4 Nr 1 AsylbLG i.V.m. § 45 Abs 1 SGB X zur Durchsetzung einer Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG setzt eine Ermessensausübung der Behörde voraus (sog. Rücknahmeermessen).
3. In die Interessenabwägung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs nach § 86b Abs 1 S 1 Nr 2 SGG ist einzubeziehen, dass sich im Hauptsacheverfahren aus verfassungs- und europarechtlichen Gründen schwierige Rechtsfragen stellen können, insbesondere ob die (einheitlichen) Rechtsfolgen bei Anspruchseinschränkungen gemäß § 1a Abs 1 AsylbLG mit dem Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art 1 Abs 1 i.V.m. Art 20 Abs 1 GG) zu vereinbaren sind.
Quelle: https://voris.wolterskluwer-online.de/
5.2 LSG NSB, Beschluss v. 02.06.2026 - L 8 AY 13/25 B ER -
Dazu Detlef Brock
1. Leistungen nach dem AsylbLG bei Verstoß gegen eine Wohnsitzauflage bei atypischem Fall ( (hier bejaht aus gesundheitlichen Gründen).
Amtlicher Leitsatz
1. § 11 Abs 2 AsylbLG enthält in den Fällen des Zuwiderhandelns gegen eine ausländerrechtliche räumliche Beschränkung bzw bei einem Verstoß gegen eine Wohnsitzauflage eine Leistungspflicht der Behörde des tatsächlichen Aufenthaltsorts.
2. Die Leistungspflicht nach § 11 Abs 2 AsylbLG umfasst sämtliche Leistungen der faktischen Bedarfsdeckung, die jedoch in der Regel beschränkt sind auf die Übernahme der notwendigen Reise- sowie dringend erforderlichen Verpflegungskosten, damit der Ausländer den durch die asyl- bzw ausländerrechtliche Beschränkung bestimmten Aufenthaltsort erreichen kann. In atypischen Fällen sind weitergehende Leistungen bis zum Niveau der regulären Leistungen (§§ 3 bzw 2 AsylbLG) zu erbringen (hier bejaht aus gesundheitlichen Gründen).
Quelle: https://voris.wolterskluwer-online.de/
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Beispiel für Quellenangabe zum Rechtsprechungsticker: Quelle: Tacheles Rechtsprechungsticker KW 14/2025 - Autor: Detlef Brock
Beispiel für Quellenangabe zum Newsletter: Quelle: Thomé Newsletter 12/2025 vom 06.04.2025 - Autor Harald Thomé
Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock