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Tacheles Rechtsprechungsticker KW 10/2021

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem ( SGB II ) und zum Arbeitsförderungsrecht ( SGB III )

1.1BSG, Urteil vom 04.03.2021 - B 4 AS 60/20 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Eingliederungsleistungen - Aufnahme einer Arbeitsgelegenheit in der Entgeltvariante - Fahrkostenerstattung aus dem Vermittlungsbudget - keine Förderungsfähigkeit mangels versicherungspflichtiger Beschäftigung im Sinne der Vorschrift

Leitsatz ( Redakteur )


1. Ablehnung der Übernahme von Fahrkosten für die Aufnahme der Arbeitsgelegenheit ist rechtmäßig.

2. § 45 Abs 1 Satz 1 SGB III aF als Anspruchsgrundlage ordnet ausdrücklich an, dass Leistungen aus dem Vermittlungsbudget für die Anbahnung oder Aufnahme einer "versicherungspflichtigen" nicht jedoch einer "sozialversicherungspflichtigen" Beschäftigung erbracht werden können. Damit wird auf die Regelungen zur Versicherungspflicht in den §§ 24 ff SGB III Bezug genommen, was sich zudem aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt.



Quelle: https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Verhandlungen/DE/2021/2021_03_04_B_04_AS_60_20_R.html





1.2 BSG, Urteil v. 04.03.2021 - B 4 AS 59/20 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Einstiegsgeld - sozialversicherungspflichtige Beschäftigung

Leitsatz ( Redakteur )


1. Ablehnung von Einstiegsgeld für die Aufnahme einer Arbeitsgelegenheit in der Entgeltvariante.

2. Das SGB II unterscheidet grundsätzlich zwischen Arbeitsgelegenheiten einerseits und Erwerbstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt andererseits. Diese systematische Trennung würde unterlaufen, wenn eine Arbeitsgelegenheit zugleich als Erwerbstätigkeit zur Eingliederung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt anzusehen wäre und zu einer (weiteren) Förderung führen könnte.

3. Die Anspruchsvoraussetzungen für das Einstiegsgeld müssen sich im unmittelbar auf die konkret beabsichtigte Beschäftigung beziehen, was sich aus dem Gesetzeswortlaut ("bei Aufnahme") ergibt. Eine Förderung mit dem Einstiegsgeld als "Zwischenschritt" zur Eingliederung in nachfolgende Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kommt damit ebenfalls nicht in Betracht.



Quelle: https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Verhandlungen/DE/2021/2021_03_04_B_04_AS_59_20_R.html





1.3 BSG, Urteil v. 04.03.2021 - B 11 AL 5/20 R

Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen - Verjährungsfristen - Verwaltungsakt

Orientierungshilfe ( Redakteur )

1. § 50 Abs 4 Satz 1 SGB X verknüpft den Beginn der Verjährung bei Ansprüchen eines Sozialleistungsträgers auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen mit einem den Erstattungsanspruch konkret festsetzenden schriftlichen Verwaltungsakt im Sinne des § 50 Abs 3 SGB X und dessen Unanfechtbarkeit.

2. Aus § 52 SGB X, der nach § 50 Abs 4 Satz 3 SGB X unberührt bleibt, ergibt sich keine abweichende Verjährungsfrist. Die 30jährige Verjährungsfrist findet Anwendung allein bei Erlass eines Verwaltungsakts im Sinne des § 52 Abs 1 SGB X. § 52 Abs 1 SGB X setzt eine bereits laufende Verjährungsfrist hinsichtlich des vom Sozialleistungsträger geltend gemachten Anspruchs aus einer anderen Rechtsgrundlage voraus, weil nur "gehemmt werden kann", was bereits zu laufen begonnen hatte. In den Fallgestaltungen des § 50 SGB X kann erst ein weiterer Bescheid eine bereits laufende Verjährungsfrist des nach § 50 Abs 3 SGB X festgesetzten Erstattungsanspruchs hemmen. Bei der vierjährigen Verjährungsfrist des § 50 Abs 4 SGB X handelt es sich zudem um eine Sonderregelung zu Beginn und Lauf der Verjährung, welche die 30jährige Verjährungsfrist des § 52 Abs 2 SGB X als speziellere Vorschrift verdrängt. Wenn der Gesetzgeber den Lauf einer 30jährigen Verjährungsfrist unmittelbar bereits mit dem Erlass eines Erstattungsbescheids hätte verbinden wollen, hätte er anstelle der in § 50 Abs 4 Satz 1 SGB X festgelegten vierjährigen Verjährungsfrist auf eine entsprechende Anwendung des § 52 Abs 2 SGB X verweisen können.



Quelle: https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Verhandlungen/DE/2021/2021_03_04_B_11_AL_05_20_R.html





Hinweis: Dazu Orientierungssatz von RA Kay Füßlein, Berlin:

 "Der Erstattungsanspruch für zu Unrecht erbrachte Leistungen  des Sozialleistungsträger unterliegt der vierjährigen Verjährung nach § 50 Abs. 3 SGB X, sofern nicht auch  ein Verwaltungsakt nach § 52 SGBX (Durchsetzungsverwaltungsakt) ergangen ist. Eine Mahnung mit Mahngebühren stellt nicht einen solchen  Durchsetzungsverwaltungsakt dar. „



Anmerkung von RA Kay Füßlein, Berlin zu diesem Urteil:

Verjährung der Forderung der JobCenter und der Bundesagentur für Arbeit

In der Instanzgerichtsbarkeit (Sozialgerichte und Landessozialgerichte) war bislang weitestgehend geklärt, dass bestimmte Rückforderungen der JobCenter innerhalb von vier Jahren nach Erlass des Rückforderungsbescheides verjähren können (Verdammt lang her, verdammt lang her….. Verjährung von Erstattungsforderungen im SGB II oder „Schadenmanagement“ durch Rechtsprechungsvermeidung?“ (Verdammt lang her II) oder Verjährung und Mahngebühren )

Nachdem sich die Bundesagentur für Arbeit um eine höchstrichterliche Entscheidung – nun ja – rumdrückte, urteilte das Bundessozialgericht am 04.03.2021 ausweislich des Terminberichtes vom diesem Tage:

Die Revision der Beklagten ist aber unbegründet, soweit die Vorinstanzen festgestellt haben, dass die mit den Erstattungsbescheiden geltend gemachten Forderungen verjährt sind. § 50 Abs 4 Satz 1 SGB X verknüpft den Beginn der Verjährung bei Ansprüchen eines Sozialleistungsträgers auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen mit einem den Erstattungsanspruch konkret festsetzenden schriftlichen Verwaltungsakt im Sinne des § 50 Abs 3 SGB X und dessen Unanfechtbarkeit. Die vierjährige Verjährungsfrist bewirkte den Eintritt der Verjährung mit Beginn des Jahres 2016. Die Klägerin hat sich auf die Verjährung berufen, ohne dass dies rechtlich zu beanstanden wäre.



Quelle: http://www.ra-fuesslein.de/wordpress/?p=1049



2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende ( SGB II )

2.1 LSG NRW, Urt. v. 19.11.2020 - L 19 AS 1204/20 - Revision zugelassen

Kein Arbeitnehmerstatus bei 100 Euro Gehalt für zehn Stunden Arbeit pro Monat

Fehlt aufgrund einer untergeordneten und unwesentlichen Tätigkeit die (europarechtlich definierte) Arbeitnehmereigenschaft, scheidet ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II aus.

Kurzfassung:

Unter Abwägung der Gesamtumstände sei der Kläger aufgrund des Arbeitsvertrages kein Arbeitnehmer i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU gewesen, weil es sich bei der ausgeübten geringfügigen Beschäftigung um eine untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit gehandelt habe. Zwar schließe weder die Tatsache, dass es sich um eine sozialversicherungsfreie geringfügige Beschäftigung gehandelt habe, noch die fehlende Regelung zum Urlaubsanspruch die Annahme des Arbeitnehmerstatus aus. Zudem sei der allgemeinverbindliche Manteltarifvertrag für das Gaststätten- und Hotelgewerbe des Landes Nordrhein-Westfalen auf das Beschäftigungsverhältnis des Klägers anwendbar. Jedoch stelle sich die Tätigkeit im Hinblick auf die ausgesprochene Geringfügigkeit der vereinbarten Vergütung – 100,00 € monatlich – und der Arbeitszeit – 10 Stunden monatlich – als untergeordnet und unwesentlich dar, auch wenn berücksichtigt werde, dass das Arbeitsverhältnis unbefristet gewesen sei und der vereinbarte Stundenlohn von 10,00 € den im Jahr 2019 geltenden Mindestlohn von 9,19 € nach dem MiLoG und das für die Tarifgruppe 1 (u.a. für Spülkräfte) geltende Tarifentgelt i.H.v. 9,53 € überstiegen habe. Der Kläger könne sich auch nicht erfolgreich auf Entscheidungen des BSG berufen, da es darin um erheblich höhere Arbeitszeiten – 7,5 Stunden wöchentlich bzw. 30 Stunden monatlich – gegangen sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Quelle: Pressemitteilung des LSG Essen v. 26.02.2021 : https://www.juris.de/jportal/portal/t/m4u/page/homerl.psml?nid=jnachr-JUNA210200746&cmsuri=%2Fjuris%2Fde%2Fnachrichten%2Fzeigenachricht.jsp



Volltext: http://www.justiz.nrw.de/nrwe/sgs/lsg_nrw/j2020/NRWE_L_19_AS_1204_20.html





2.2 LSG NRW, Urt. v. 09.11.2020 - L 19 AS 212/20

SGB II-Anspruch für Halbgeschwister eines Deutschen


Familienangehörige eines Deutschen – hier: die Halbgeschwister eines Minderjährigen, die einen Aufenthaltstitel wegen Familiennachzugs haben – werden nicht vom Leistungssauschluss des § 7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 SGB II erfasst.

Kurzfassung:

Der Leistungsausschluss greife hier nicht ein. Zwar hätten sich die Kläger erst weniger als drei Monate im Bundesgebiet aufgehalten. Nach dem aus der Entstehungsgeschichte herzuleitenden Zweck und systematischen Erwägungen habe die Rechtsposition von Drittstaatsangehörigen, die im Rahmen eines Familiennachzugs zu einem deutschen Staatsangehörigen in die Bundesrepublik zögen, durch die Einführung des Leistungsausschlusses jedoch nicht beeinträchtigt werden sollen. Die Vorschrift sei folglich dahingehend einschränkend auszulegen, dass der Familienangehörige eines Deutschen, der einen Aufenthaltstitel nach den Bestimmungen des AufenthG – Aufenthalt aus familiären Gründen – besitze oder dem zum Zweck des Familiennachzuges von einer deutschen Botschaft ein nationales Visum ausgestellt worden sei, von dieser Regelung nicht erfasst werde. Bei den Klägern als Halbgeschwister eines deutschen Staatsangehörigen habe es sich um Verwandte zweiten Grades eines minderjährigen Deutschen und damit um sonstige Familienangehörige in einer Seitenlinie i.S.d. AufenthG gehandelt. Ihnen sei zudem ein Visum zwecks Familiennachzuges erteilt worden.

Quelle: Pressemitteilung des LSG Essen v. 25.02.2021 : https://www.juris.de/jportal/portal/t/n8q/page/homerl.psml?nid=jnachr-JUNA210200715&cmsuri=%2Fjuris%2Fde%2Fnachrichten%2Fzeigenachricht.jsp



Volltext: http://www.justiz.nrw.de/nrwe/sgs/lsg_nrw/j2020/NRWE_L_19_AS_212_20.html





2.3 LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 27.11.2020 - L 32 AS 1455/20 B ER

Aufhebung eines endgültigen Bewilligungsbescheides über Leistungen der Grundsicherung wegen Änderung der Verhältnisse - Sonderregelung nach § 40 Abs. 4 SGB 2


Orientierungssatz ( Juris )

1. § 40 Abs. 4 SGB 2 enthält eine besondere Ermächtigungsgrundlage für die Aufhebung von endgültigen Bewilligungsbescheiden wegen der Änderung bestimmter tatsächlicher Verhältnisse und damit eine Sonderregelung für die Abänderung von Bewilligungsbescheiden im Geltungsbereich des SGB 2.(Rn.42)

2. Danach ist ein abschließender Bewilligungsbescheid über Leistungen der Grundsicherung mit Wirkung für die Zukunft bei Fallgestaltungen aufzuheben, in denen die Änderung der tatsächlichen Verhältnisse dazu führt, dass bei einem Neuantrag vorläufig entschieden wäre, § 41a SGB 2.(Rn.43)

3. Verfügt der Grundsicherungsträger bei Erlass eines Entziehungsbescheides über Leistungen des SGB 2 über keinerlei Erkenntnisse des Grundsicherungsberechtigten, so kann über die Erbringung von Leistungen nicht nach § 41a Abs. 1 S. 1 SGB 2 vorläufig entschieden werden.(Rn.53)

4. Bei fehlender Erwerbsfähigkeit des Antragstellers sind die Voraussetzungen des § 40 Abs. 4 SGB 2 nicht erfüllt. Der Erlass eines Verwaltungsaktes nach § 41a SGB 2 kommt in einem solchen Fall wegen des Fehlens eines Anspruchs bereits dem Grunde nach nicht in Betracht.(Rn.57) .



Quelle: https://www.berlin.de/





3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende ( SGB II )

3.1 SG Lüneburg, Beschluss vom 10.02.2021 - S 23 AS 13/21 ER

Keine Eilbedürftigkeit für Versorgung mit medizinischen Masken durch SGB-II-Leistungsträger

Leitsatz ( Juris )


1. Für die Verpflichtung des Leistungsträgers nach dem SGB II zur Übernahme der Kosten des Erwerbs medizinischer Masken im Wege der einstweiligen Anordnung fehlt es – unabhängig vom Bestehen eines Anspruchs – jedenfalls an einem Anordnungsgrund.

2. Der Kaufpreis der für die Nutzung im Nahverkehr sowie für Einkäufe im Einzelhandel ausreichenden OP-Masken ist derart gering, dass dieser aus den verfügbaren Mitteln eines Hilfebedürftigen aufgebracht werden kann und das Abwarten des Ausgangs eines möglichen Verfahrens der Hauptsache zumutbar erscheint. Dies gilt insbesondere ob der Tatsache, dass aufgrund des pandemiebedingten Verbots kultureller Veranstaltungen der für Kultur vorgesehene Anteil der Regelleistung für den Maskenkauf umgeschichtet werden kann.



Quelle: http://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsndprod.psml;jsessionid=B8B0D1FF65D0D05A8CD5C38C64404A8A.jp21?doc.id=JURE210002964&st=null&doctyp=juris-r&showdoccase=1&paramfromHL=true#focuspoint





3.2 SG Osnabrück, Beschluss v. 01.02.2021 - S 22 AS 16/21 ER

Generalverdacht der Verschleierung bei Hilfebedürftigen beim Zugang von ALG II in der Pandemie?


Orientierungshilfe ( Redakteur )

1. Vorläufige Gewährung von ALG II, denn es hat den Anschein, dass das JobCenter die eingereichten Unterlagen gar nicht vollständig gesichtet hat, aber dennoch immer wieder stellenweise dieselben Unterlagen fordert.

2. Die Kammer hält es für überzogen, die Nichtangabe ungenutzter Konten/Sparbücher und die laienhafte Einordnung von Verfügungsberechtigungen, aus denen glaubhaft kein eigener Nutzen gezogen wird, zugleich mit einem Generalverdacht der Verschleierung zu belegen.



Quelle: http://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsndprod.psml;jsessionid=B8B0D1FF65D0D05A8CD5C38C64404A8A.jp21?doc.id=JURE210003284&st=null&doctyp=juris-r&showdoccase=1&paramfromHL=true#focuspoint





3.3 SG München, Beschluss v. 10.02.2021 – S 37 AS 98/21 ER

Keine Eilbedürftigkeit für Versorgung mit medizinischen Masken durch SGB-II-Leistungsträger

Leitsatz ( Redakteur )


1. Kein Mehrbedarf für die Anschaffung der derzeit für den Einkauf und in den öffentlichen Verkehrsmitteln aufgrund der Corona-Pandemie vorgeschriebenen FFP2-Masken durch das Jobcenter.

2. Es fehlt auch an einem Anordnungsgrund im Sinne der Eilbedürftigkeit einer gerichtlichen Entscheidung, da davon auszugehen ist, dass durch die Übersendung von 5 Masken pro Person durch die Stadt sowie durch die mittlerweile angelaufene Ausgabe von Berechtigungsscheinen für FFP2-Masken durch die Krankenkassen an SGB II- und SGB XII-Bezieher keine Notwendigkeit mehr besteht, dass eine eilige Entscheidung des Gerichts ergeht, um die Antragsteller von einer Kostenbelastung durch die FFP2-Maskenpflicht beim Einkaufen und in den öffentlichen Verkehrsmitteln zu befreien.



Hinweis: ebenso SG Lüneburg, Beschluss vom 10.02.2021 - S 23 AS 13/21 ER; zum SGB XII: SG München, Beschluss v. 03.02.2021 - S 46 SO 29/21 ER; a. Auffassung: SG Karlsruhe, Beschluss v. 11.02.2021 - S 12 AS 213/21 ER - Hartz-IV-Mehrbedarf um kalendermonatlich 129,- EUR durch FFP2-Masken - Wöchentlich 20 FFP2-Masken für Hartz-IV-Empfänger





3.4 SG Dresden, Beschluss v. 01.03.2021 - S 29 AS 289/21 ER

Jobcenter muss keine Mehrbedarfe für FFP2- Masken zahlen

Leitsatz ( Redakteur )


Empfänger von Leistungen nach dem SGB II (sog. "Hartz IV") dürfen vom Jobcenter keine zusätzlichen Zahlungen für den Erwerb von FFP2-Masken verlangen.

Kurzfassung:

Die entscheidende Rechtsgrundlage für den Anspruch sei hier § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II. Danach werde bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, besonderer Bedarf besteht. Dieser sei aber weder glaubhaft gemacht, noch sei eine besondere Eilbedürftigkeit gegeben. Nach § 2 der Coronavirus-Schutzmaskenverordnung habe der Antragsteller bereits Anspruch auf 10 kostenlose FFP2-Masken, die er in der Apotheke abholen könne. Eine absolute Pflicht zum Tragen von FFP2-Masken bestehe nach § 3 Abs. 1b der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung vom 12.02.2021 nur in wenigen Situationen, die für den erwerbslosen Antragsteller allerdings nicht relevant seien (zB für Mitarbeiter_innen der ambulanten Pflege). In allen anderen Bereichen des öffentlichen Lebens reichten nach der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung vom 12.02.2021 weiterhin Alltagsmasken bzw. - insbesondere im Nahverkehr, beim Einkaufen und in Arztpraxen und Krankenhäusern - OP-Masken aus, die der Antragsteller günstig im Discounter kaufen könne. Diese böten bei korrekter Anwendung einen ausreichenden Fremd- und hinreichenden Eigenschutz. Hierfür seien die Hartz-IV Zahlungen, die der Antragsteller bereits erhalte, auskömmlich.

Der Beschluss des Gerichts ist unanfechtbar.

Quelle: Pressemitteilung des SG Dresden v. 02.03.2021: https://www.juris.de/jportal/portal/t/vj4/page/homerl.psml?nid=jnachr-JUNA210300792&cmsuri=%2Fjuris%2Fde%2Fnachrichten%2Fzeigenachricht.jsp





4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht ( SGB III )

4.1 LSG Berlin- Brandenburg, Urt. v. 18.01.2021 - L 18 AL 32/20


Sperrzeit bei Arbeitsablehnung - Beginn - vorherige Sperrzeit - Rechtsfolgenbelehrung

Orientierungshilfe ( Redakteur )

1. Es mangelt hinsichtlich einer dreiwöchigen Sperrzeitdauer zwar nicht an einer ausreichenden Rechtsfolgenbelehrung. Denn es ist von einer ausreichenden Rechtsfolgenbelehrung auszugehen, soweit jeweils ein erstes versicherungswidriges Verhalten und die daran anknüpfende Rechtsfolge einer dreiwöchigen Sperrzeit betroffen ist.

2. Die weiteren Voraussetzungen für den Eintritt der dreiwöchigen Sperrzeit lagen jedoch nicht vor, und zwar ungeachtet dessen, ob der Kläger durch die unentschuldigte Nichtteilnahme an dem Vorstellungsgespräch dessen Zustandekommen verhindert hat, ohne hierfür einen wichtigen Grund gehabt zu haben. Denn die Sperrzeit bei Arbeitsablehnung beginnt kraft Gesetzes mit dem Tag nach dem Ereignis, das die Sperrzeit begründet, oder, wenn – wie hier – dieser Tag in eine Sperrzeit fällt (vgl rechtskräftiges Urteil des erkennenden Gerichts vom 28. Juli 2020 – L 18 AL 29/20 -), mit dem Ende dieser Sperrzeit (vgl § 159 Abs. 2 Satz 1 SGB III).



Quelle: https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/JURE210002923





5. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zur Sozialhilfe ( SGB XII )

5.1 SG Frankfurt, Gerichtsbescheid v. 14.12.2020 - S 20 SO 144/17


Leitsatz ( Juris )

Es besteht im Rahmen des SGB XII kein Anspruch auf Gewährung eines internetfähigen Computer für den Schulbesuch, da es sich bei dem Gerät um kein Haushaltsgegenstand handelt und die Kosten für ein solches Gerät im Regelsatz und im Rahmen von Bildung und Teilhabe berücksichtigt worden.

Quelle: https://www.rv.hessenrecht.hessen.de/bshe/search



Hinweis: Für Leistungsberechtigte nach SGB XII und Analogleistungen nach § 2 AsylbLG entfaltet die Weisung der Bundesagentur für Arbeit keine Wirkung. Entsprechend der Weisung vom Bundesministerium, für Arbeit und Soziales, vom 09. Februar 2021 (Aktz.: Vb1-50114) besteht auch im Rechtskreis des SGB XII der Übernahmeanspruch auf digitale Endgeräte entsprechend der Weisung im SGB II (Weisung 202102001/ GR 1- II-1900 vom 01.02.2021) in Höhe von gesamt 350 EUR.

Laut BMAS Weisung ist nach nach § 37 Absatz 1 SGB XII eine Darlehensgewährung mit gleichzeitigem dauerhaften Verzicht auf die Rückzahlung nach § 37 Absatz 4 SGB XII möglich ("Nulldarlehen"). Diese verbindliche Erklärung des dauerhaften Verzicht auf die Rückzahlung sollte gleich mit dem Antrag gestellt werden.

Daher sind aus Gründen der Gleichbehandlung zwischen SGB II und SGB XII bzw. Analogleistungen nach § 2 AsylbLG beziehenden Kindern und Jugendlichen auch im vorliegenden Fall digitale Endgeräte zu erbringen.

Quelle: Digitale Endgeräte für SGB XII - Beziehende und Geflüchtete die Analog-Leistungen nach § 2 AsylbLG erhalten : https://tacheles-sozialhilfe.de/startseite/aktuelles/d/n/2739/



6. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG 

6.1 Sozialgericht Hildesheim, Beschluss vom 19.02.2021 – Az.: S 27 AY 4032/20 ER

Normen: § 2 AsylbLG, §§ 3, 3a AsylbLG – Schlagworte: Russische Föderation, keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet, AsylbLG, Gerichtsentscheidung, Sozialgericht Hildesheim


Orientierungshilfe ( Redakteur )

1. Die Wiedereinreise in das Bundesgebiet erweist sich als alleiniges Verhalten in keinem Fall als rechtsmissbräuchlich (vgl. (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 09. April 2020 – L 8 AY 4/20 B ER).

2. Auch ergeben sich aus dem Verhalten der Antragsteller keine hinreichenden Anhaltspunkte für ein rechtsmissbräuchliches Verhalten. Das Bestreben der Antragsteller, eine Lebensgrundlage für sich und seine Familie zu schaffen, ist gleichfalls nicht als rechtsmissbräuchlich zu werten (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 09. April 2020 – L 8 AY 4/20 B ER ).



Quelle: RA Sven Adam, Göttingen: https://anwaltskanzlei-adam.de/2021/02/28/sozialgericht-hildesheim-beschluss-vom-19-02-2021-az-s-27-ay-4032-20-er/







7. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

7.1 Online-Antrag auf Arbeitslosengeld: Vor dem Absenden vollständig lesen - Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 25.01.2021 - L 11 AL 15/19

Das LSG Celle-Bremen hat entschieden, dass ein Arbeitsloser sich nicht auf die Unkenntnis seiner Mitteilungspflicht berufen kann, wenn er den Empfang des Merkblatts „Rechte und Pflichten“ im Online-Antrag bestätigt hat.

Das LSG hat die Rechtsauffassung der Bundesagentur bestätigt.

Zur Begründung hat es ausgeführt, dass ein Anspruch auf ALG auch bei einer unbezahlten Probearbeit von min. 15 Wochenstunden entfalle, da der Betroffene dadurch der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung stehe. Gegen die Rückforderung von ALG könne keine Unkenntnis der Meldepflicht vorgebracht werden. Sie ergebe sich aus dem Merkblatt, dessen Erhalt jeder Arbeitslose bei Antragstellung durch Unterschrift bestätige. Gleiches gelte auch bei einem Online-Antrag, denn dieser könne nur an die Bundesagentur versandt werden, wenn zuvor die Kenntnisnahme durch Anklicken bestätigt werde. Dies habe der Mann auch getan. Wenn trotzdem keine Mitteilung der Probearbeit erfolge, so handele der Betroffene grob fahrlässig.

Quelle: Pressemitteilung des LSG Celle-Bremen Nr. 7/2021 v. 01.03.2021 : https://www.juris.de/jportal/portal/t/k1v/page/homerl.psml?nid=jnachr-JUNA210300763&cmsuri=%2Fjuris%2Fde%2Fnachrichten%2Fzeigenachricht.jsp





Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 25.01.2021 - L 11 AL 15/19

Arbeitslose müssen aufgenommene Probearbeit unverzüglich der Bundesagentur für Arbeit melden.

Ein leistungsrechtlich relevantes Beschäftigungsverhältnis setzt keine Entgeltlichkeit voraus.

Leitsatz ( Redakteur )


Auch bei einem Probearbeitsverhältnis handele es sich um eine Beschäftigung iSd § 138 Abs 3 SGB III, selbst wenn hierfür kein Arbeitsentgelt gezahlt werde.



Hinweis: Leitsatz Dr. Manfred Hammel

Die Aufnahme eines Probearbeitsverhältnisses steht der Bejahung von Beschäftigungslosigkeit im Sinne des § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III und damit der Geltendmachung eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld I (§ 136 Abs. 1 Nr. 1 SGB III) entgegen.

Auch hier handelt es sich um ein Beschäftigungsverhältnis im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB IV. Als Beschäftigung gilt nach § 7 Abs. 2 SGB IV ebenfalls „der Erwerb beruflicher Kenntnisse, Fertigkeiten oder Erfahrungen im Rahmen betrieblicher Berufsbildung“, sofern in diesem Rahmen mindestens eine Beschäftigung im Umfang von 15 Wochenstunden erfolgt.

Innerhalb eines Probearbeitsverhältnisses verhält sich ein Stellenbewerber nicht nur rein passiv, sondern erbringt auch Leistungen von wirtschaftlichem Wert.

Ein leistungsrechtlich bedeutsames Beschäftigungsverhältnis setzt keine vereinbarte Entgeltlichkeit der jeweiligen Tätigkeit voraus.

Die unterlassene Meldung der Aufnahme eines Probearbeitsverhältnisses der Bundesagentur für Arbeit gegenüber stellt einen Verstoß gegen eine Mitwirkungsobliegenheit nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB I dar. Bei einer Aufnahme einer solchen Tätigkeit handelt es sich ebenfalls um eine Änderung in den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen.

Nachdem Alg I beziehende Personen innerhalb des ihnen amtlicherseits ausgehändigten „Merkblatt 1 für Arbeitslose – Ihre Rechte, Ihre Pflichten“ auf die unverzügliche Pflicht zur Meldung auch eines Probearbeitsverhältnisses ausdrücklich hingewiesen werden, hat ein diesbezügliches Unterlassen eines Alg I-Empfängers als grob fahrlässig im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3, 2. HS SGB X aufgefasst zu werden. Dies gestattet der BA für Arbeit eine Aufhebung der Bewilligung von Alg I entsprechend § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit § 330 Abs. 3 SGB III vom Beginn des Probearbeitsverhältnisses an innerhalb der Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X.





7.2 Urteil: Jobcenter muss FFP2-Masken nicht bezahlen

Das Sozialgericht in Braunschweig hat entschieden:

Das Jobcenter muss die FFP2-Masken einer jungen Frau nicht bezahlen. Die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern bezieht vom Jobcenter die Grundsicherung. Sie wollte einen Zuschuss von 129 Euro pro Monat, um damit genügend Schutzmasken kaufen zu können. Mit dem Geld des Regelbedarfs sei das nicht möglich, so ihre Argumentation. Das Sozialgericht sah das anders. Zehn FFP2-Masken habe die Frau kostenlos erhalten, diese dürfen auch mehrfach verwendet werden. Zudem gebe es einfache OP-Masken bereits zum Stückpreis von weniger als 50 Cent. Der Antrag der Frau wurde abgelehnt.



Quelle: https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/braunschweig_harz_goettingen/Urteil-Jobcenter-muss-FFP2-Masken-nicht-bezahlen,aktuellbraunschweig6380.html





7.3 Keine Mehrheit für Forderung nach Vielklägergebühr

Der Bundesrat hat am 05.03.2021 über den Vorschlag Hessens beraten, eine besondere Verfahrensgebühr für sogenannte Vielkläger in der Sozialgerichtsbarkeit einzuführen

Der Gesetzesantrag fand bei der Abstimmung im Plenum jedoch nicht die erforderliche absolute Mehrheit von 35 Stimmen. Er wird daher nicht in den Bundestag eingebracht.

Was Hessen vorgeschlagen hatte

Hessen hatte vorgeschlagen, die Sozialgerichte von aussichtlosen Klagen zu entlasten und so genannten Vielklägern eine Sondergebühr von 30 Euro aufzuerlegen. Als solcher sollte gelten, wer in den letzten zehn Jahren bereits zehn oder mehr Verfahren in einem Land angestrengt hat. Diese Personen müssten künftig die Gebühr einzahlen, damit ein neues Verfahren angenommen würde. Nach derzeitigem Recht sind Verfahren vor den Sozialgerichten für die Klägerinnen und Kläger gebührenfrei.



Die Gebühr wäre nicht vom Anspruch auf Prozesskostenhilfe umfasst, würde aber erstattet, wenn die Klage erfolgreich wäre. Zudem könnten die Gerichte die jeweilige Gebührenfestsetzung jederzeit überprüfen.

Aussichtslose Verfahren vermeiden

weiter auf Juris: https://www.juris.de/jportal/portal/t/12vx/page/homerl.psml?nid=jnachr-JUNA210300858&cmsuri=%2Fjuris%2Fde%2Fnachrichten%2Fzeigenachricht.jsp



Kommentar von Harald Thomé Tacheles dazu (Thome Newsletter 10/2021): 

Viele Gerichtsverfahren ließen sich vermeiden, wenn die Gesetze besser gemacht werden würden, noch mehr, wenn es eine effektive Rechtsaufsicht für die jeweiligen Sozialleistungsträger  gäbe, die sich nachhaltig um die Einhaltung des Rechts kümmern würde. Die Motivation der Behörden, sich rechtskonform zu verhalten, könnte durch die  Auferlegung von Gerichtskosten und verstärkte Anwendung von Mutwillgebühren gegen Behörden deutlich gesteigert werden. Mit der Einführung eines Verbandsklagerechts in der Sozialgerichtsbarkeit ließen sich ebenfalls viele Individualklagen vermeiden. Und als Letztes würde die Finanzierung einer wirklichen behördenunabhängigen  Sozialberatung auch dazu führen, dass weniger Klagen eingelegt werden.
Die Gerichtskostenfreiheit in der Sozialgerichtsbarkeit ist eine Errungenschaft des Rechtsstaates und hat unangetastet zu bleiben!



7.4 §1a AsylbLG bedeutet in der Regel Kürzung um 55 Prozent gegenüber Grundleistungen

Das Integrationsministerium Rheinland-Pfalz veröffentlicht regelmäßig detailliert die bundesweit geltenden Bedarfssätze inkl. der einzelnen Abteilungen des AsylbLG. Für 2021 gibt es die hier, hier und hier.

weiter: https://www.ggua.de/aktuelles/einzelansicht/cfdb1f7c6c49fa812ec996b27a36501b/?tx_news_pi1%5Bnews%5D=1165&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail



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Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

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