Newsticker
Tacheles Rechtsprechungsticker KW 06/2025
1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem SGB 2
1.1 BSG, Beschluss v. 17.12.2024 - B 7 AS 81/24 B -
Landessozialgericht Verstößt gegen das Gebot eines fairen Verfahrens (Art 19 Abs 4 GG)
Bundessozialgericht bestätigt: Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist für Bürgergeldempfängerin, welche vor vielen Jahren als Rechtsanwältin tätig war.
Der Umstand, dass die Klägerin vor vielen Jahren als Rechtsanwältin tätig war, genügt schon vor dem Gesamteindruck ihrer Verfahrensführung nicht, sie einer durch einen Rechtskundigen vertretenen Klägerin gleichzustellen.
Das LSG konnte damit nicht ohne Verstoß gegen das Gebot eines fairen Verfahrens (Art 19 Abs 4 GG) davon ausgehen, die Klägerin wolle ausschließlich noch ein Klagebegehren verfolgen, dem es bereits an der Zulässigkeit fehlt, weil von ihr benannte Bescheide entweder rechtskräftig sind oder es an einem Vor- bzw Klageverfahren fehle.
2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Bürgergeld ( SGB II )
2.1 LSG Hessen, Urt. v. 27.09.2024 - L 9 AS 380/22 – www.sozialgerichtsbarkeit.de
Ansprüche auf Übergangsgeld von „Aufstockern“ nach dem SGB II ( vgl. BSG, Urt. v. 7. April 2022 - B 5 R 17/21 R - )
Zum Anspruch auf Übergangsgeld in Höhe des von ihr bezogenen Arbeitslosengeldes II während der Teilnahme an der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme.
2.2 LSG Bayern, Beschluss v. 28.01.2025 - L 7 AS 508/24 B ER – www.sozialgerichtsbarkeit.de
Kostensenkungsaufforderung, Rechtsschutzbedürfnis, Unterlassungsklage, vorbeugende Feststellungsklage, vorbeugender Rechtsschutz
Bürgergeld: Oft fehlt Leistungsbeziehern das Rechtsschutzbedürfnis bei Eilverfahren gegen eine Kostensenkungsaufforderung
Für vorbeugenden Rechtsschutz gegen eine Kostensenkungsaufforderung des Jobcenters fehlt es regelmäßig am Rechtsschutzbedürfnis, insbesondere im Rahmen eines Eilverfahrens.
Denn bei der Kostensenkungsaufforderung handelt es sich - um keinen anfechtbaren Verwaltungsakt, gegen den mit einer Anfechtungsklage und damit einem entsprechenden gerichtlichen Eilantrag vorgegangen werde könnte (BSG, Urteil vom 15.06.2016 - B 4 AS 36/15 R -).
Dies schließt jedoch aber nicht aus, dass in begründeten Einzelfällen Rechtsschutz im Wege einer Feststellungsklage erreicht werden kann.
Praxistipp:
Ob überhaupt eine belastende Verwaltungsmaßnahme aufgrund der vermeintlich bestehenden Kostensenkungsobliegenheit bevorsteht, kann frühestens dann festgestellt werden, wenn der mit der Kostensenkungsaufforderung initiierte Dialog über die Angemessenheit der KdUH als abgeschlossen anzusehen ist (BSG, Urteil vom 15.06.2016 - B 4 AS 36/15 R Rz 22).
Hier ist aber das Jobcenter noch im Dialog mit den Leistungsbeziehern, sodass der Dialog mit dem Jobcenter – noch nicht abgeschlossen war - was aber nach BSG Rechtsprechung Voraussetzung für eine Feststellungsklage ist.
2.3 LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 05.11.2024 - L 2 AS 3642/22 - Revision zugelassen zum BSG
ALG 2: Weitere Klage Nr. 2 ( bei der Grundsicherung nach dem SGB 2 ) - beim Bundessozialgericht anhängig hinsichtlich des Regelbedarfs im Zeitraum Januar 2022 bis April 2022
Orientierungssatz Detlef Brock
Die Höhe des Regelbedarfs für Alleinerziehende für die Monate Januar 2022 bis April 2022 genügt auch weiterhin den verfassungsrechtlichen Anforderungen ( vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18.10.2023 - L 18 AS 279/23 (Revision anhängig unter B 7 AS 20/24 R zur Frage der Verfassungskonformität des Regelbedarfs der Regelbedarfsstufe 1 in September und Oktober 2022 ).
Leitsätze Gericht Baden-Württemberg auf www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Die Zulassung der Revision steht einer Entscheidung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG nicht entgegen.
2. Bei der Covid-19-Einmalzahlung (hier: § § 70 SGB II) handelt es sich einmalige Leistung eigener Art und deswegen um einen abtrennbaren Streitgegenstand.
3. Der Regelbedarf für Alleinstehende gem. § 20 Abs. 1 SGB II genügte im Streitzeitraum Januar bis April 2022 den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
Praxistipp
Weitere Verfahren anhängig beim Bundessozialgericht hinsichtlich der Frage der Verfassungswidrigkeit der Regelleistung in 2021/2022
Es sind vier Verfahren beim Bundessozialgericht wegen Regelsatzhöhe anhängig
3. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Bürgergeld ( SGB II )
3.1 keine
4. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zur Sozialhilfe ( SGB XII )
4.1 SG Berlin, Urt. v. 23.01.2025 - S 37 SO 1596/21 -
Sozialhilfe - Nothilfe - Erstattungsanspruch eines Krankenhausträgers wegen stationärer Krankenhausbehandlung - Tag der Kenntnis des Sozialhilfeträgers vom Leistungsfall
Nothelferanspruch § 25 SGB XII: Die Kenntnis der Polizei Berlin ist keine Kenntnis des Sozialhilfeträgers i.S.d. § 18 SGB XII.
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Eine Unterbringung nach dem Psychisch Krankengesetz Berlin steht der Annahme eines medizinischen Eilfalls im Rahmen der Nothilfe nicht entgegen. Die Kenntnis der Polizei Berlin ist keine Kenntnis des Sozialhilfeträgers i.S.d. § 18 SGB XII.
4.2 LSG BW, Urt. v. 26.11.2024 - L 2 SO 1981/24 -
Sozialhilfe: Feststellung der Erwerbsfähigkeit vom Rentenversicherungsträger gilt ausschließlich für das Sozialamt - nicht für das Gericht
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Bei einem Streit um die Leistungsberechtigung nach dem 4. Kapitel des SGB XII gilt die Bindungswirkung nach § 45 Satz 2 SGB XII bzgl. einer vom ersuchten Rentenversicherungsträger festgestellten Erwerbsfähigkeit ausschließlich für den Sozialhilfeträger, nicht hingegen für die Gerichte.
Die Tatsachengerichte haben unabhängig von der Feststellung des Rentenversicherungsträgers die verminderte Erwerbsfähigkeit selbst und umfassend von Amts wegen zu überprüfen und ggf. Beweis zu erheben.
Praxistipp:
Gleichgültig, ob die Behörde ein Verfahren nach § 45 SGB XII zur Feststellung der dauerhaften Erwerbsminderung einleitet und abgeschlossen hat, haben das SG bzw. das LSG unabhängig von der Entscheidung des Trägers der Rentenversicherung die verminderte Erwerbsfähigkeit selbst und umfassend von Amts wegen zu überprüfen und ggf. Beweis zu erheben.
Die in § 45 SGB XII vorgesehene Bindung an die Entscheidung des Rentenversicherungsträgers trifft nämlich nur die Verwaltung, nicht die Gerichte (BSG, Urteil vom 25.04.2013 - B 8 SO 21/11 R -).
5. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Elterngeld und Kindergeld
5.1 LSG BW, Urteil v. 17.12.2024 - L 11 EG 843/24 – www.sozialgerichtsbarkeit.de
Behörde fordert von der Familie Elterngeld in Höhe von 1800, 00 € zurück - rechtswidrig, weil es an einer Rechtsgrundlage fehlt
Orientierungssatz Detlef Brock
1. Wenn die Mindestbezugsdauer von Elterngeld von zwei Monaten entgegen der ursprünglichen Planung nicht erreicht wird, kann die Rückforderung für den ersten Bezugsmonat im Einzelfall gleichwohl ausgeschlossen sein.
2. Dies gilt zu mindestens dann, wenn der Kläger den ursprünglichen Bewilligungsbescheid weder durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat oder dieser auf falschen oder unvollständigen Angaben des Klägers beruht, und der Senat davon überzeugt ist, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Antragsstellung und auch des Bescheiderlasses beabsichtigt hatte, beide Elternzeitmonate in Anspruch zu nehmen.
3. Soweit die Behörde immer wieder kritisiert, Väter könnten einfach mal pro forma zwei Elterngeldmonate beantragen, obwohl sie nicht planten, den zweiten Elterngeldmonat in Anspruch zu nehmen, trifft dies nicht zu. Vielmehr könnten Leistungen an solche bösgläubigen Väter nach § 45 SGB X zurückgefordert werden, da die Bewilligung von Beginn an rechtswidrig und das Vertrauen - wegen arglistiger Täuschung, unrichtiger Angaben und Kenntnis der Rechtswidrigkeit, § 45 Abs. 2 Satz 3 Ziff. 1 bis 3 SGB X - nicht schutzwürdig wäre.
4. Es gibt mithin keinesfalls einen Freibrief für unredliches Verhalten, wie die Behörde zu glauben meint. Vielmehr ist stets der Einzelfall zu betrachten.
5.2 LSG BW, Urt. v. 17.12.2024 - L 11 EG 272/24 -
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Bei der Berechnung des Elterngeldes sind solche Einnahmen nicht zu berücksichtigen, die im Lohnsteuerabzugsverfahrens nach den lohnsteuerrechtlichen Vorgaben als „sonstige Bezüge" behandelt werden. Für die Abgrenzung zwischen „laufendem Arbeitslohn" und „sonstigen Bezügen" ist allein auf das formelle und materielle Steuerrecht abzustellen.
5.3 LSG Hessen, Urt. v. 25.11.2024 - L 5 KG 2/21 -
Orientierungssatz Detlef Brock
Somalisches Kind hat keinen Anspruch auf Kindergeld, wenn es sich missbräuchlich der Kenntnis vom Aufenthalt seiner Eltern verschließt ( vgl. BSG, Urteil vom 14. Dezember 2023, B 10 KG 1/22 R ).
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Kenntnis vom Aufenthalt seiner Eltern im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 BKGG hat ein Kind bereits dann, wenn es weiß, an welchem für das Kind bestimmbaren Ort sich seine Eltern zumindest vorübergehend befinden. Selbst wenn ein Kind vorübergehend nicht weiß, an welchem Ort sich seine Eltern zumindest zeitweise befinden, fehlt ihm deshalb nicht ohne Weiteres die Kenntnis ihres Aufenthalts im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 BKGG.(Anschluss an: BSG, Urteil vom 14. Dezember 2023, B 10 KG 1/22 R).
2. Unterlässt es ein Kind aus persönlichen Gründen Kontakt über zuvor bestehende und funktionierende Kommunikationswege mit seinen Eltern aufzunehmen (hier: telefonisch), kann hierin ein missbräuchliches Verhalten liegen.
6. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG
6.1 Sozialgericht Heilbronn – Beschluss vom 23.01.2025 – Az.: S 16 AY 121/25 ER
Normen: § 3 AsylbLG, § 3a AsylbLG, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG – Schlagworte: Leistungen nach den § 3 AsylbLG, Leistungen nach den § 3a AsylbLG, Regelbedarfsstufe 1
Orientierungssatz Detlef Brock
Dem Antragsteller sind Leistungen nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen zu gewähren.
Hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des Bescheids schließt sich das Gericht der Rechtsauffassung des Bayerischen Landessozialgerichts (Urteil vom 30.10.2023, L 8 AY 33/23) an, wonach eine verfassungskonforme Auslegung des § 3a AsylbLG erforderlich ist.
Auch das hier erkennende Gericht ist der Überzeugung, dass erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine wortlautgetreue Auslegung bestehen. Insoweit verweist das Gericht auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 19. Oktober 2022 (1 BvL 3/21). Dort führt das BVerfG aus:
weiter bei RA Sven Adam: https://anwaltskanzlei-adam.de/2025/02/02/sozialgericht-heilbronn-beschluss-vom-23-01-2025-az-s-16-ay-121-25-er/
7. Verschiedenes zum Bürgergeld, Sozialhilfe, Wohngeld und anderen Gesetzesbüchern
7.1 Einspeisevergütung aus einer Photovoltaikanlage ist kein Erwerbseinkommen – Besprechung zum BSG, Urteil - B 4 AS 16/23 R - mit RA Helge Hildebrandt, Kiel
Die Einspeisevergütung aus dem Betrieb einer Photovoltaikanlage ist ohne Abzug der Erwerbstätigenfreibeträge auf ALG II / Bürgergeld anzurechnen.
Auch die steuerrechtlich im Wege der Abschreibung zu berücksichtigende Abnutzung der Anlage ist grundsicherungsrechtlich keine mit der Erzielung des Einkommens verbundene notwendige Ausgabe und deswegen von der anzurechnenden Einspeisevergütung nicht vorab abzusetzen.
Abzuziehen ist allein die so genannte Versicherungspauschale in Höhe von 30 Euro.
Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock