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SoVD NRW: Kurzstellungnahme zum Armuts- und Reichtumsbericht NRW 2004

Landesverband
Nordrhein-Westfalen

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im April 2005

Kurzstellungnahme
zum Armuts- und Reichtumsbericht NRW 2004

Der Sozialverband Deutschland, Landesverband NRW, dankt der Landesregierung für die Veröffentlichung des Berichtes. Kritikwürdige Details schmälern nicht den Verdienst, insbesondere in dem der Reichtumsberichterstattung gewidmeten Teil höchst bemerkenswerte Befunde zu präsentieren, die Wesentliches zur Versachli-chung der öffentlichen sozialpolitischen Diskussion beitragen können. Sie verweisen zugleich auf höchst dringliche politische Handlungsbedarfe, die vor dem Hintergrund wesentlicher Befunde des Armutsberichtsteils umso schärfer hervortreten.
Der SoVD-NRW unterstreicht daher die Auffassung von Landessozialministerin Fi-scher (Vorwort), dass die Ergebnisse Gegenstand breiter öffentlicher Wahrnehmung und Diskussion werden müssen. Er begrüßt, dass die Ministerin die Veröffentlichung des Berichtes als Aufforderung an Verbände, Initiativen und Bürgerschaft versteht, sich an der Debatte um politische Schwerpunktsetzungen und Weiterentwicklungen zu beteiligen.

Hohe Ungleichverteilung des Reichtums bei Konzentration an der Spitze der Reichtumshierarchie
Der Bericht bestätigt erwartungsgemäß den engen Zusammenhang zwischen Ein-kommens- und Vermögensreichtum. Bei den untersten 10% der Haushalte sind die Nettomarkteinkommen bzw. die Vermögen negativ. Hier ist die Lage der Haushalte von der Abhängigkeit von Sozialleistungen und von Ver- und Überschuldung geprägt. 13% der Haushalte verfügen über keinerlei positives Vermögen.
Die einkommensreichsten 10% der Haushalte bezogen 1998 allein über ein Drittel (35,6%) der gesamten Nettomarkteinkommen in NRW. Die weitgehend identischen vermögensreichsten 10% verfügten allein über 45% des Nettogesamtvermögens. In beiden Fällen weisen die obersten 10% der Haushalte selbst eine erhebliche Reich-tumskonzentration an der Spitze auf. Während die Nettomarkteinkommen der obers-ten 5% durchschnittlich 5,2 mal höher waren als die des Durchschnitts aller Steuer-pflichtigen, wuchs dieser Abstand bei den knapp 2.000 Haushalten mit einem Jah-resnettoeinkommen von mehr als einer Million Euro auf das 134-fache und bei den 1.000 einkommensreichsten auf das 202-fache. Bei den Vermögen hielten die obers-ten 5% bereits 30% des Nettogesamtvermögens, die Euro-Millionäre mit einem Haushaltsanteil von 0,4% allein 6,1%. Aus den Vermögen entstanden in NRW im Jahr 1998 Vermögenseinkünfte von gut 34 Mrd. Euro, mehr als das Fünffache des Haushalts des damaligen Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Die Un-gleichverteilung der Vermögenseinkünfte folgt der Vermögensverteilung.
Bei all diesen Angaben ist zu berücksichtigen, dass – wie der Bericht selbst feststellt – die verfügbaren Datenquellen den tatsächlichen Reichtum privater Haushalte nur unzureichend erfassen. Außerhalb der Betrachtung bleiben ohnehin Unternehmens-vermögen und –gewinne, die nicht natürlichen Personen zuzuordnen sind. Die dan-kenswerter Weise im Bericht enthaltene sozialethische Reflexion über Reichtum in NRW (Hengsbach/Jakobi) geht unter Verweis auf andere Quellen davon aus, dass amtliche Reichtumsberichte den Reichtum immer noch aus der „Froschperspektive“ betrachten. Die Autoren richten den Blick insbesondere auf den „exklusiven“ Ultra- Reichtum, der keinen gesellschaftlichen Nutzen stiftet, weite Bevölkerungsteile vom Zugang zu den privatisierten Ressourcen ausschließt und somit sozial schädigend wirkt.

Unsoziale Verteilungswirkung des Steuer- und Abgabensystems
Geradezu spektakulär wirken die Befunde des Berichts über die Verteilungswirkung des Steuer- und Abgabensystems. Die Ungleichverteilung der am Markt erzielten Einnahmen wird durch Steuern und Sozialabgaben nicht nur nicht gemildert, sondern im Gegenteil noch verstärkt. Während 1998 dem durchschnittlichen Steuerpflichtigen nach Steuern und Abgaben 53,6% der ursprünglichen Markteinnahmen verblieben, wuchs dieser Nettoanteil bei den obersten 20% der Haushalte mit steigendem Ein-kommen bis auf 59,0% in der Spitze der 1.000 einkommensreichsten Haushalte. Da-durch stieg der Anteil der obersten 10% an den gesamten Markteinkommen von ur-sprünglich 33% auf 35,6% auf der Nettoebene.
Die maßgeblichen Ursachen hierfür sieht der Bericht in der Verteilungswirkung der Verbrauchssteuern und der Deckelung der Sozialversicherungsbeiträge durch Bei-tragsbemessungsgrenzen. Beides belastet geringe Einkommen umso stärker, je ge-ringer sie sind, hohe Einkommen umso geringer, je höher sie sind. Dadurch wird die beabsichtigte Wirkung der progressiven Einkommensbesteuerung, nämlich wirt-schaftlich Stärkeren auch anteilig stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens he-ranzuziehen, im Ergebnis kompensiert und bei den oberen 20% sogar ins Gegenteil verkehrt.
An den Beispielen des Bildungs- und des Gesundheitswesens wird zudem aufge-zeigt, dass einkommensstärkere Gruppen von den aus Steuern und Sozialabgaben finanzierten, unentgeltlich oder verbilligt nutzbaren Infrastrukturen stärker profitieren als einkommensschwächere. Die soziale Schieflage auf der Einnahmeseite wird so-mit auf der Verwendungsseite teils noch verstärkt.

„Öffentliche Armut“ ist einnahmebedingt
Mit der Darstellung der Entwicklung der Sozialleistungsquote (Anteil aller Sozialaus-gaben am Bruttoinlandsprodukt) von 1960 bis 2003 widerlegt der Bericht die gängi-gen Behauptungen, dass der Sozialstaat an einer unkontrollierten Ausgabensteige-rung kranke und „zu teuer“ geworden sei. Vielmehr ist die Sozialleistungsquote seit dem Wiederaufleben der Massenerwerbslosigkeit Mitte der 1970er Jahre bis 1990 leicht zurückgegangen, erreichte erst Mitte der 1990er Jahre wieder den Wert von 1975 und hat sich auch seither kaum erhöht. Dabei waren in diesem Zeitraum die sozialen Folgelasten der deutschen Vereinigung sowie wachsende Massenerwerbs-losigkeit und -armut auch in den alten Bundesländern zu verkraften.
Tatsächlich führt der Bericht das Phänomen der „öffentlichen Armut“ (der leeren Kassen von Land und Kommunen) auf unzureichende und weggebrochene Einnah-men, insbesondere bei den Gewinn- und Vermögenssteuern, zurück. Während die Gewinnsteuern 1960 mit knapp 35% zum Steueraufkommen in Deutschland beitru-gen, waren es 2003 nur noch etwa 12% - ein historischer Tiefststand, der durch ei-nen „regelrechten Absturz“ der Gewinnsteuern ab dem Jahr 2000 erreicht wurde. Im gleichen Zeitraum stieg der Lohnsteueranteil des Steueraufkommens von 12% auf 32,5%.
Folgenden Zitate verdeutlichen die zusammenfassende Botschaft des Reichtumsbe-richts:
„Die in den empirischen Analysen dieses Berichts (...) gewonnenen Befunde bele-gen, dass, wie auch immer konkret abgegrenzt, privater Reichtum, gemessen an der durch die Steuersätze vorgetäuschten formalen Progressivität, zu wenig zur Finan-zierung des Abgabenaufkommens beiträgt.“
„Allein die legalen Möglichkeiten der Steuergestaltung und –vermeidung führen dazu, dass beim Fiskus enorme Einnahmenausfälle entstehen. Dadurch fehlen gerade in ökonomisch schwierigen Zeiten die nötigen Mittel für öffentliche Leistungen (z.B. im Bildungsbereich) wie für Sozialleistungen. Die aktuell diskutierten Steuerreformvor-schläge werden daran nichts ändern, eher im Gegenteil.“
„Vor allem aber ist angesichts der in diesem Bericht aufgezeigten Analysen zu fra-gen, ob die einkommensstärkeren Gruppen nicht einen größeren Beitrag zur Finan-zierung der dem Allgemeinwohl dienenden Aufgaben leisten könnten (und sollten).“

Anstieg der Armut seit 2000
Die Entwicklung des einkommensarmen Bevölkerungsanteils (Armutsquote), definiert mit weniger als 50% des durchschnittlichen bedarfsgewichteten Nettoeinkommens der Bevölkerung, verlief in NRW in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre relativ kon-stant auf einem Niveau zwischen 12,4 und 11,9%. Nach 1999 setzte dann ein deutli-cher Anstieg bis auf 15,0% (2002) bzw. 14,8% (2003) ein. Der leichte Rückgang um 0,2% am Ende des Berichtszeitraums geht weniger auf Verbesserungen der Lebens-situation der Armutsbevölkerung zurück als auf einen Rückgang der Durch-schnittseinkommen. Besondere Beachtung verdient dabei der Umstand, dass sich die Quoten der „relativen“ Armut (50%-Schwelle) und der „strengen“ Armut (40%-Schwelle) nicht mehr parallel entwickelten, sondern der leichte Rückgang bei der 50%-Schwelle mit einer weiteren Zunahme der strengen Armut verbunden war.
Höchst bemerkenswert ist auch, dass sich der Anstieg der Armutsquote nicht in ei-nem Anstieg der Sozialhilfequote (Bevölkerungsanteil der Sozialhilfe Beziehenden) niederschlug. Stattdessen lag diese 2002 um 0,1% unter dem Wert von 1996. Nimmt man hinzu, dass die Armutsquote sich um das Drei- bis Vierfache über der Sozialhil-fequote bewegt, scheint sich zu bestätigen, dass die (offiziell als „bekämpfte Armut“ geltende) Sozialhilfe ihre Aufgabe des Schutzes vor Armut in erheblichem Umfang und zunehmend stärker verfehlte.

Gruppenspezifische Armutsrisiken
Die Untersuchungen über von Armutsrisiken besonders betroffene Bevölkerungs-gruppen bestätigen erneut die bekannten Befunde, dass kinderreiche und Ein-Eltern-Familien, Erwerbslose und MigrantInnen sowie Menschen mit fehlendem oder gerin-gem (Aus-)Bildungsabschluss besonders hohen Armutsrisiken ausgesetzt sind.
Das Schwerpunktthema der zielgruppenorientierten Armutsberichterstattung ist den schwerbehinderten Menschen gewidmet. Die Befunde bestätigen erhebliche Barrie-ren beim Zugang zu Bildung und Erwerbsarbeit. Ein Viertel der jüngeren schwerbe-hinderten Menschen (18-35 Jahre) verfügt über keinen Schulabschluss; bei der ver-gleichbaren nichtbehinderten Bevölkerung sind es weniger als 5%. Nur jede/r Dritte erwerbsfähige Schwerbehinderte ist erwerbstätig, bei den Nichtbehinderten sind es fast zwei Drittel (64,5%). Dies bildet sich auch in der überdurchschnittlich hohen Er-werbslosigkeit Schwerbehinderter ab, die mit der Kampagne „50.000 neue Jobs für Schwerbehinderte“ leider nur vorübergehend gemindert wurde.
Der SoVD-NRW kritisiert, dass der Bericht an einer entscheidenden Stelle sein Ziel verfehlt. Indem darauf verzichtet wurde, zur Berechnung von Armutsquoten für die Gruppe der schwerbehinderten Menschen die Einkommen um den behinderungsbe-dingten Mehraufwand zu bereinigen, haben die Angaben zu den Armutsrisiken hier keine Aussagefähigkeit. Wie der Bericht selbst einräumt, hätte eine entsprechende Bereinigung der zu Grunde gelegten Einkommen „einen nicht unwesentlichen An-stieg der Armutsrisikoquoten zur Folge“ gehabt.
Der SoVD-NRW begrüßt und unterstreicht die Klarstellung des Berichts, dass sich hinter der überdurchschnittlichen Einkommensposition und dem geringen durch-schnittlichen Armutsrisiko der über 65-Jährigen eine erhebliche Ungleichheit inner-halb der Altersbevölkerung verbirgt. Gut 28% der allein lebenden über 65-Jährigen verfügen über ein Nettoeinkommen von weniger als 900 Euro; dabei ist der Frauen-anteil doppelt so hoch wie der der Männer. Bei den Mehrpersonenhaushalten muss jeder Vierte mit Haushaltsnettoeinkommen zwischen 900 und 1.500 Euro auskom-men. Damit wird deutlich, wie abwegig pauschale öffentliche Darstellungen von den „reichen Alten“ tatsächlich sind.

Schlussfolgerungen
Die dargestellten Berichtsbefunde stützten sich auf Datenquellen der Jahre 1998 bis 2003. Bei der Diskussion der Ergebnisse ist daher zu berücksichtigen, dass die Steuerreformen seit 1998 und die Gesetzgebung im Rahmen der „Agenda 2010“ seit 2003 unzweifelhaft zu weiteren Verstärkungen der dem Sozialstaatsgebot widerspre-chenden Verteilungswirkung des Steuer- und Abgabensystems sowie einer weiteren Zunahme der sozialen Ungleichheit und der Polarisierung unserer Gesellschaft in Arm und Reich beigetragen haben. Weiter zugenommen hat damit auch die – vom SoVD-NRW seit Jahren betonte - Dringlichkeit einer Neuausrichtung des Steuer- und Abgabensystems, die sich am Verfassungsgebot von der Sozialpflichtigkeit des Ei-gentums sowie an den Grundsätzen der Solidarität und Belastungsgerechtigkeit ori-entiert.
In diesem Zusammenhang begrüßt und unterstreicht der SoVD-NRW, dass der Be-richt selbst die Wiedereinführung einer Vermögensbesteuerung und eine verstärkte Gewinnbesteuerung nahe legt. Insgesamt sind seine maßgeblichen Befunde eine überzeugende Untermauerung der vom Landesverbandstag des SoVD-NRW 2003 beschlossenen Forderungen nach einer belastungsgerechten Steuer- und Abgaben-politik, die den öffentlichen Händen die notwendigen Mittel sichert, um bedarfsge-rechte und leistungsfähige Sozialversicherungen und soziale Infrastrukturen zu ga-rantieren. Hier eingeschlossen sind die schrittweise Aufhebung der Beitragsbemes-sungs- und Versicherungspflichtgrenzen sowie die Einbeziehung von Kapital- und Vermögenseinkommen in die Beitragspflicht zur Sozialversicherung.
Kinder sind unsere Zukunft. Und Familie ist, wo Kinder sind. Es ist unerträglich, dass vor allem Familien mit drei und mehr Kindern sowie Ein-Eltern-Familien nach wie vor die höchsten Armutsquoten überhaupt aufweisen. Nach Auffassung des SoVD-NRW muss es zu den vorrangigen Aufgaben der Steuer- und Familienpolitik gehören, hier für Abhilfe zu sorgen.
Der Bericht verdeutlicht erneut den ursächlichen Zusammenhang zwischen wach-sender Erwerbslosigkeit und sich ausbreitender Armut. Der SoVD-NRW bekräftigt daher seine langjährige Forderung nach wirksamen Maßnahmen zum nachhaltigen Abbau der Massenerwerbslosigkeit. Nach aller Erfahrung mit Anspruch und Wirklich-keit von Politiken, die mit dieser Zielsetzung begründet wurden und werden, sind hierzu neue Instrumentarien erforderlich, die mit den Grundsätzen der Verteilungsge-rechtigkeit und der Solidarität der Stärkeren mit den Schwächeren vereinbar sind.
Angesichts der schwerwiegenden sozialen und ökonomischen Probleme unseres Landes sieht der SoVD-NRW Landesregierung und Landtag in der Verpflichtung, solche sich durch den Armuts- und Reichtumsbericht NRW geradezu aufdrängenden Orientierungen unverzüglich zur Grundlage entschlossenen politischen Handelns zu machen.

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