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Dossier: Alternativen zur "Repressanda 2010": Umverteilung und Aufwertung der Kommunen

Hallo miteinander,

wie lässt sich Arbeit und Wohlstand für alle erreichen? Die Politologie-Professoren Peter Grottian, Wolf-Dieter Narr und Roland Roth haben am Freitag in Berlin dafür ein Konzept vorgelegt. Es basiert auf Grundsicherung, einem neuen Verständnis von Arbeit und der Stärkung der Kommunen. Das Papier ist zugleich eine kritische Abrechnung mit der "Agenda 2010" der rot-grünen Regierungskoalition.



Link zur Dokumentation der "Frankfurter Rundschau": http://www.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/dokumentation/?cnt=348196

pdf-Datei der Langfassung: http://www.berliner-arbeitslosenzentrum.de/download/grottian-narr-roth.pdf

Viele Grüße

Harald Thome

Sich selbst eine Arbeit geben

Alternativen zur "Repressanda 2010": Umverteilung und Aufwertung der Kommunen / Von Peter Grottian, Wolf-Dieter Narr und Roland Roth

Wie lässt sich Arbeit und Wohlstand für alle erreichen? Die Autoren haben am Freitag in Berlin dafür ein Konzept vorgelegt. Es basiert auf Grundsicherung, einem neuen Verständnis von Arbeit und der Stärkung der Kommunen. Das Papier ist zugleich eine kritische Abrechnung mit der "Agenda 2010" der rot-grünen Regierungskoalition.

Die programmierte Erfolglosigkeit der Agenda 2010 im Sinne eines täuschenden Wachstums- und Beschäftigungsversprechens fordert Alternativen heraus. Sie lebt von der Reformillusion, eine gestreichelte Ökonomie würde die Fata-Morgana neoliberaler Herrschaftsmacht, nämlich Arbeit und Wohlstand für alle, hervorbringen. Nein, diese Agenda 2010 funktioniert nicht einmal unter ihren eigenen Voraussetzungen. Sie ist nicht Agenda, sondern dem Namen nach eine "Repressanda" und wirkt primär als Mittel der Disziplinierung nach unten bei denen, die wenig oder nichts haben. Die Agenda 2010 ist der Offenbarungseid einer Politik, die nichts zu bieten hat - noch nicht einmal mehr die Kerze am Ende des Tunnels.

Mit einer qualitativ anderen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik muss man menschenrechtlich-demokratisch konzeptionell beginnen

1. Menschenrechtsgemäße Grundsicherung statt Sozialhilfe

Alle Bürgerinnen und Bürger sollen als gleiche und freie Personen ohne existenzielle Ängste leben können. Dieses Versprechen kann nur einigermaßen eingehalten werden, wenn der soziale Grund allen Mitgliedern der Gesellschaft erwartbar politisch demokratisch gewährleistet wird. Das heißt, rechtssicher und ohne Angst vor den wechselnden Klimazonen des eigenen Schicksals. mit folgenden Kriterien:

- Der Sockelbetrag, den jede Person erhält, muss so hoch sein, dass er ein bürgerliches Leben ohne Not gestattet.

- Der erheblich über dem gegenwärtigen Sozialhilfesatz liegende Sockelbetrag verletzt die persönliche Integrität derjenigen nicht, die ihn beziehen. Das ist ein entscheidender Unterschied zur Sozialhilfe. Der individuelle Rechtsanspruch für alle muss verbürgt sein. Er wird an die lokalen Lebensbedingungen angepasst. Er ist unabhängig von der öffentlichen Kassenlage.

Kleine soziale Einheiten fördern

- In kleinen sozialen Einheiten, an jedem Ort, in jedem Stadtteil wird der Fond der Grundsicherung öffentlich zugänglich verwaltet. Der Verwaltungsaufwand ist infolge des nicht diskriminierenden Charakters der Mittelvergabe gering. An den Entscheidungen, der Vergabe- und den Überprüfungen, die öffentlich gemachten Einwänden gelten, sind vor allem diejenigen angemessen zu beteiligen, die primär von der Grundsicherung leben.

- Es ist strikt darauf zu achten, dass die basisdemokratische Prägung bleibt. Die Anträge zur Grundsicherung sind auf wenige, leicht überprüfbare Fragen zu beschränken. Sie greifen nicht tief in die Integrität der Personen ein. Die wichtigsten Entscheidungen fallen lokal. Sie werden zwischen den Instanzen und ihren lokal unmittelbar von den Beziehern der Grundsicherung gewählten Vertretern ausgehandelt.

Erst die Grundsicherung schafft die Voraussetzung der Freiheit von Angst. Erst eine solche Freiheit von Angst macht demokratisches Verhalten möglich. Kurzum: Die Grundsicherung ist die positive Antwort auf die strukturelle Krise der kapitalistisch verfassten Arbeitsgesellschaft.

Ermutigung geben

2. Den Arbeitsmarkt von unten dynamisieren. Erwerbsfähigen und Erwerbswilligen werden unkonventionell Arbeitsplätze unterschiedlichen Typs angeboten. Diejenigen, die brach liegende Arbeit tun wollen, können sich selbst einen Arbeitsplatz entlang ihren Qualifikationen, Motivationen und Möglichkeiten suchen. Bürgerinnen und Bürger bestimmen über ihre Erwerbstätigkeit in Inhalt und Form, nicht primär ein vermachtet unberechenbarer Markt und eine kafkaesk verstellte und verschiebende Bürokratie. Ein großes Spektrum von Arbeitschancen dehnt sich attraktiv. Diejenigen, die sich selbst eine Arbeit geben, arbeiten als Betreuer von Alten, von Schülern, von Behinderten und Kindern. Als Stadtteilhelferin, Fußball-Fanclub-Begleiterin, Rechercheurin in Forschungsprojekten, Fliegende Cafe-Dienstleisterin, Märchenerzählerin für Kinder, Festivalhelfer, Ökologieassistenten, City-Cleanern, Lehrerassistenten, Quartiersmanagerin und Musikassistentin. Die neuen Arbeitnehmleute finden, erfinden, wählen und suchen ihre Arbeitsplätze. Sie schließen einen Arbeitsvertrag über Teil- oder Vollarbeitszeit, der zunächst auf drei Jahre begrenzt ist. Die Arbeitsverträge müssen einigen Minima der Sozialcharta entsprechen. Die Arbeit ist so zu entgelten, dass der Lohn der Arbeit erheblich über der Grundsicherung liegt.

Das Programm will arbeitslose oder schlecht beschäftigte Personen ermutigen, sich selbst etwas zu trauen, selbst nach Arbeit zu suchen und Neugier auf möglicherweise ungewohnte Tätigkeitsfelder zu entwickeln. Wenn diejenigen, die gesellschaftlich entlohnte Arbeit suchen, selbst aktiv werden - das ist unsere Annahme -, dann werden ihre erfolgreichen Beispiele andere mitziehen. Der Arbeitsvertrag wird zur Regelungsinstanz dieses Projekts.

Zwei Stufen dieses Programms öffentlichen Arbeitsangebots zu verwirklichen, sind vorgesehen: Erste Stufe: Erwerbslose probieren bei vollem Gehalt für drei Monate einen Arbeitsplatz aus. Darüber hinaus erhalten sie einen Qualifikationszuschuss. Mit dessen Hilfe können sie sich beraten und von verschiedenen Beratungsagenturen unterstützen lassen. Diese Beratungsagenturen machen im Konsens mit dem "Arbeitgeber" und dem "Arbeitnehmer" Vorschläge über die Zukunft des Arbeitsplatzes, seine Qualifikationserfordernisse und die Art der Fortbildung. Entscheidend ist es, dass "Arbeitgeber" und "Arbeitnehmer" übereinstimmen. Die Beratungsagenturen können ehrenamtliche lokale Gremien, private Agenturen, Handwerker oder Arbeits-, Jugend- und Sozialämter sein. Sie sind die Joblotsen mit Kompetenz und Überzeugung, aber ohne die Marterwerkzeuge von negativen Sanktionen. Zweite Stufe: Auf drei Jahre begrenzt werden in der ersten Etappe öffentliche Mittel zur Verfügung gestellt, um in den Beruf einzusteigen.

Wer soll das bezahlen? Wie hoch die Kosten sein werden, lässt sich vorweg nicht genau voraussagen. Das Experiment neuer Arbeit wird nur sinnvoll, wenn zunächst wenigstens ein bis zwei Millionen Erwerbslosen eine Chance eröffnet wird. Wenn diese im Durchschnitt Verdienste hätten, die mindestens 15 000 Euro im Jahr über der Sozialhilfe/Arbeitslosenhilfe lägen, dann sind 15 bis 30 Milliarden Euro jährlich öffentlich aufzubringen. Gewiss ist, dass die Kosten erheblich geringer sein werden als diejenigen, die rund um die Arbeitslosigkeit anfallen. Arbeit der neuen Vielfältigkeit ist selbst rechnerisch das mit Abstand wohlfeilste Politikvorhaben. Gegenwärtig flössen fast 40 Prozent der Ausgaben durch Steuern, Sozialbeiträge, Mehrwertsteuern u.ä.m. wieder in irgendeiner Form an die öffentlichen Haushalte zurück. Wer menschenrechtsgemäße Grundsicherung und selbstbestimmte, vielfältigste Arbeitsplätze neu denkt, kommt nicht daran vorbei, die Schlussfolgerungen für Arbeits- und Sozialämter ebenfalls neu zu denken: Sie könnten teilweise schlicht abgeschafft werden.

3.Umverteilung von aller Arbeit statt Arbeitszeitverlängerung

"Arbeitsplätze von unten" machen nur einen Sinn, wenn gleichzeitig das vorhandene Arbeitsvolumen verteilt wird. Die jetzt geforderte Arbeitszeitverlängerung ist eine perverse Antwort auf die Notwendigkeit, durch Verkürzung von Arbeitszeit neue Arbeitsplätze zu schaffen. Zu Arbeitszeitverkürzungen zählen: eine staatlich flankierte Verkürzung der Wochen- und Tagesarbeitszeit; die Förderung freiwilliger Teilzeitarbeit; die besondere Förderung von Teilzeit für junge Paare; Vorruhestandsregelung; Einstellungskorridore für die jüngere Generation. Das Problem besteht aktuell darin, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften wenig daran interessiert sind, die Arbeitslosigkeit als den zentralen Gegenstand der Tarifverhandlungen anzusehen. Eine Mindestforderung wäre, zumindest das Finanzvolumen von 0,5 Prozent der jeweiligen Tarifangebote (zwei bis vier Prozent) in neue Arbeitsplätze unterschiedlichen Typs umzuwandeln. Für den öffentlichen und privaten Sektor könnten auf diese Weise jährlich bis zu 600 000 neue Arbeitsplätze in Teilzeit oder Vollzeit gewonnen werden.



DIE AUTOREN

Peter Grottian (61) ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft am Otto-
Suhr-Institut der FU Berlin; Arbeitsfelder: Arbeitsmarkt und Sozialpolitik, neue soziale Bewegungen.

Roland Roth (54) ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Fachhochschule Magdeburg, Arbeitsfelder: Neue soziale Bewegungen, Bürgerkommune, Sozialpolitik; auch er ist ehemaliger Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie.

Wolf-Dieter Narr (66) ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und ehemaliger Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie e.V.

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Wer über eine Verteilung gesellschaftlich notwendiger und wünschbarer Arbeit redet, darf über die Potenziale, die in einer Geschlechterdemokratie steckten, nicht schweigen. Ein angemessenes Verständnis von Arbeit meint Erwerbsarbeit, Hausarbeit, Erziehungsarbeit und vielfältige Formen soziokultureller Arbeit. Gegenwärtig wird Arbeits- und Machtteilung zwischen den Geschlechtern mehr gewünscht. Sie wird aber nicht gefördert, sondern geradezu bestraft. Erst wenn Geschlechterdemokratie als Produktivkraft entdeckt wird, erhält sie ihre mögliche gesamtgesellschaftliche Wirkung. Der wirkungsvollste Hebel wäre, diejenigen, die Arbeit mit Partnerschaften, Allein-Leben, Familie mit Kindern als balanciertes Lebensmodell praktizieren wollen, gesellschaftlich zu belohnen. Das Ehegattensplitting in Verbindung mit weitreichenden Teilzeitangeboten abzuschaffen, könnte eine erhebliche Dynamik auslösen.

Bürokratie abbauen

4.Eine kommunalbegünstigende Steuerreform.

Unsere Vorschläge sind ohne eine Steuerreform, die die Kommunen stärkt, angemessen nicht umzusetzen. Beide Male ist die lokale Ebene entscheidend. Mitbestimmende Organisierung von Grundsicherung und vor allem lokal organisierte Arbeitswahl sind nur kommunal denkbar. Die Kommunen können ihrerseits nur demokratisch organisieren, wenn sie über eigene Einnahmen verfügen. Zuerst müssen deshalb die Kommunen über einen veränderten vertikalen Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden mit den nötigen Mitteln ausgestattet werden, um die nötigen Infrastrukturleistungen erbringen zu können. Ein eigenes kommunales Recht, Steuern zu erheben, ist angezeigt. Das ist vor allem in Zeiten von Notlagen der Städte und Gemeinden geboten. Dass die Kommunen beispielsweise mit Hilfe einer eigenen Einkommensteuer die belastungsfähigeren Bürger stärker heranzögen und dadurch eine Kommune erst zur Kommune machten.




Der mangelnde Streit um Alternativen zur "Repressanda 2010" beunruhigt am meisten. Ihre programmierte Erfolglosigkeit im Sinne eines täuschenden Wachstums- und Beschäftigungsversprechens sollte die Courage für Alternativen künftig befördern.

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