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Daniel Kreuz: Vorsicht "Bürgerversicherung"

Liebe KollegInnen,

anders als einige andere aus unserem "sozialoppositionellen Lager" verstehe ich die zunehmende Diskussion um eine "Bürgerversicherung", wie sie von ihren Protagonisten aus der Politik vorangetrieben wird, eher als Bedrohung denn als Hoffnung. In der "Bürgerversicherung" sehen sie nämlich ein Instrument, mit dem sich ein weitergehender Ausstieg der Arbeitgeber aus der paritätischen Finanzierung und damit eine weitere Umverteilung zu Gunsten der Wirtschaft organisieren lässt.

Die Ausweitung des Kreises der Pflichtversicherten auf alle Erwerbstätigen bei Einbeziehung von Vermögenseinkommen in die Beitragspflicht soll aus dieser Perspektive Mehreinnahmen auf Seiten der Versicherten ermöglichen, mit denen eine weitere Absenkung des paritätisch zu finanzierenden Aufwands (Senkung der "Lohnnebenkosten") finanziert werden soll. Genau dies war die Zielsetzung, mit der Prof. Lauterbach (Berater des BMGS) seinen Vorstoß für eine "Bürgerversicherung" im Rahmen des sog. "Y-Modells" der Rürup-Kommission unternahm. In diesem "Y-Modell" stand der Vorschlag eines "Kopfpauschalen"-Systems von Bert Rürup gleichsam für die radikale ("fundamentalistische") Variante des neoliberalen Systemwechels. Ob "strategisches" Kalkül oder nicht - die Wirkung der beiden "Alternativen" ist die, dass man sich vor Rürup "erschrecken" und sich in die Arme von Lauterbachs "Bürgerversicherung" flüchten soll.

Nun sind sowohl die Weiterentwicklung der Sozialversicherung von einer ArbeitnehmerInnen- zu einer Erwerbstätigenversicherung und die Einbeziehung anderer Einkommensarten außer dem Eirwerbseinkommen in die Beitragspflicht aus guten Gründen auch Forderungen des "sozialoppositionellen Lagers". Ob aber eine Reform der Finanzierungsgrundlagen der Sozialversicherung, die diese Elemente einschließt, sozialpolitischen Fortschritt oder Rückschritt bringt, hängt nach meinem Dafürhalten maßgeblich von den damit verbundenen Verteilungswirkungen ab. Um die oben angedeutete Wirkung einer weiterreichenden Umverteilung der Finanzierungslasten zu Gunsten des Kapitals zu vermeiden und den Grundsatz der Finanzierungsparität zu verteiligen, ist es unerlässlich, zumindest im gleichem Umfang, wie Mehreinnahmen bei den Versicherten erzielt werden, die Kapitalseite verstärkt im Wege eines ergänzenden Wertschöpfungsbeitrags (Wertschöpfungsabgabe) heranzuziehen. Dass das Mehraufkommen vorrangig für Leistungsverbesserungen statt zur Senkung der "Lohnnebenkosten" einzusetzen ist, bedarf hier wohl keiner weiteren Begründung.

Weit verbreitet - auch unter uns - ist der Glaube, eine Beitragsfinanzierung, die im Kern an sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (an den "Faktor Arbeit") geknüpft ist, sei angesichts dauerhaft hoher und eher wachsender Massenerwerbslosigkeit nicht zukunftsfähig. Dem entgegne ich:
nicht zukunftsfähig ist die Massenerwerbslosigkeit. Wenn wir einen weiterentwickelten Sozialstaat (oder "Solidarstaat") anstreben, dann kann dies keine Veranstaltung sein, die ihre Finanzierungssysteme auf eine "Vereinbarkeit" mit dauerhafter Gesellschaftsspaltung durch Erwerbslosigkeit (und Niedriglohnbeschäftigung) ausrichtet. Der "rheinische" Sozialstaat war u.a. deshalb als "Vollbeschäftigungsstaat" konzipiert, weil es zu den zentralen Lehren der Katastrophe von Weimar gehörte, dass sich eine Gesellschaftsspaltung durch massenhafte Erwerbslosigkeit (samt ihrer sozialen Perspektivlosigkeit), die den Boden für die Machtübernahme des deutschen Faschismus bereitet hatte, nie wiederholen dürfe. Wenn mit der "Bürgerversicherung" eine stärkere "Entkoppelung" der sozialen Sicherung vom "Faktor Arbeit" angestrebt wird, dann geht es den neoliberalen Protagonisten eher um eine Neuordnung der Finanzierung, die auch unter Bedingungen dauerhafter Massenerwerbslosigkeit und Unterbeschäftigung funktionsfähig bleibt und zugleich den Solidarbeitrag des Kapitals reduziert.

Aus unserer Perspektive sollte es dagegen eher darum gehen, die Leistungsfähigkeit der Sozialversicherung in der Phase, wo sie durch Massenerwerbslosigkeit und rückläufige Entgeltquote zerstört zu werden droht, mit geeigneten Maßnahmen im Sinne des Solidarprinzips zu "stützen". Meines Erachtens ist es also notwendig, dass wir in der Debatte um die "Bürgerversicherung" die Frage der Verteilungswirkungen und des hälftigen Solidarbeitrages der Wirtschaft (Wertschöpfungsabgabe) in den Mittelpunkt rücken und im Übrigen auf praktikable Alternativen zum wirksamen Abbau der Massenerwerbslosigkeit (Aufbau regulärer, sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze) verweisen. Dabei kommt Arbeitszeitverkürzungen eine Schlüsselrolle zu.

[Anmerkung: Die aktuellen Vorstöße zur Arbeitszeitverlängerung auf über 40 Wochenstunden, wie sie gegenwärtig etwa vom Land NRW aus "spar"politischen Motiven in die Diskussion gebracht werden, haben immerhin ein Gutes: Auch dort ist man offenbar davon überzeugt, dass über die Dauer der Regelarbeitszeit die gesamtwirtschaftliche Verteilung von Erwerbsarbeit gesteuert werden kann. Die NRW-Landesregierung geht bei der 41-Std.-Woche von einem rechnerischen Effekt des Wegfalls von 11.300 Arbeitsplätzen im Öffentlichen Dienst des Landes aus. Wenn das so herum funktioniert - dann auch anders herum: Ausweitung des Arbeitsplatzangebots durch Verkürzung der Wochenarbeitszeit.]

Viele Grüße

Daniel Kreutz
mailto:daniel.kreutz@web.de

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