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Jahresarchiv
Antrag der NRW-Grünen: Regelsatzhöhe wegen der Mehrwertsteuererhöhung anpassen
Das ist bemerkenswert und wird deshalb von Tacheles veröffentlicht:
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LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN
14. Wahlperiode
Drucksache 14/3644
30.01.2007
Datum des Originals: 30.01.2007 /Ausgegeben: 30.01.2007
Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN
Regelsatzhöhe wegen der Mehrwertsteuererhöhung anpassen
I.
1. Mit der Einführung des SGB II und des SGB XII zum 1.1. 2005 wurden die sozialhilfrechtlichen Grundlagen zur Festlegung und Gewährung der Grundsicherung bei Erwerbslosigkeit sowie im Alter und bei Erwerbsminderung neu festgelegt. Ein neuer pauschalierter Regelsatz
bestimmt seither Niveau und Struktur von Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) und Arbeitslosegeld II bzw. Sozialgeld. Sie sind nun im Wesentlichen gleich gestaltet. Ebenso gilt dies für die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit nach § 28 Absatz 1 SGB XII. Für LeistungsempfängerInnen in Einrichtungen ist der Regelsatz gleichfalls wichtig, da sich der Barbetrag zur persönlichen Verfügung (Taschengeld, § 35 SGB XII)
am Regelsatz orientiert. Darüber hinaus richten sich die Grund- und Kinderfreibeträge in der Einkommensteuer und das steuerlich zu verschonende Existenzminimum – nach dem im
Sozialhilferecht anerkannten Mindestbedarf. Weitere Bereiche haben zwar keinen unmittelbaren gesetzlichen Zusammenhang, werden aber durch den Regelsatz berührt: der Kinderzuschlag (§ 6a Bundeskindergeldgesetz), die Pfändungsfreigrenzen in der Zivilprozessordnung
und das Asylbewerberleistungsgesetz.
2. Kerngedanke der Reform war eine bedarfsgerechte pauschalierte Grundsicherung, die das sozioökonomische Existenzminimum auf der Grundlage eines transparenten Herleitungssystems abdecken sollte. Die Pauschalierung führte dazu, dass die meisten bisherigen einmaligen Leistungen als Pauschale in den Regelsatz integriert auf den bisherigen Regesatz aufgeschlagen wurden. Seither werden nur in drei Fällen nicht pauschalierbare einmalige
Leistungen gewährt: die Erstausstattungen für Wohnungen, Erstausstattungen bei Schwangerschaft und Geburt und mehrtägige Klassenfahrten (§ 37 SGB XII).
Die Festlegung der Grundsicherung orientiert sich nun an den Verbrauchsgewohnheiten von unteren Einkommensgruppen (Statistikmodell). Datenquelle ist die „Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe“ des Statistischen Bundesamtes (EVS), die alle fünf Jahre erhoben wird. Mit Vorliegen der nächsten EVS kann also alle fünf Jahre eine Überprüfung und ggf. Anpassung der Höhe und Struktur vorgenommen werden. Die Fortschreibung wird gemäß der Regelsatzverordnung anhand des jeweiligen aktuellen Rentenwertes der gesetzlichen Rentenversicherung jährlich zum 1. Juli vorgenommen. Die Länder sind ermächtigt, abweichnde
Regelungen zur Festsetzung und Ermittlung der Regelsätze zu treffen. Sie können dabei die Träger der Sozialhilfe ermächtigen, auf der Grundlage von festgelegten Mindestregelsätzen regionale Regelsätze zu bestimmen.
3. An der Ermittlung des zugrunde zu legenden Bedarfs zur Abdeckung des sozioökonomischen Existenzminimums und an der Ausgestaltung der neuen pauschalierten Hilfegewährung gibt es seit Einführung der Gesetze deutliche Kritik:
• Die Ableitung der regelsatzrelevanten Anteile aus den Verbrauchssätzen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) wurde schon mit der ersten Festlegung in der
Regelsatzverordnung vom 3. Juni 2004 auch von den Wohlfahrtsverbänden als willkürlich, nicht transparent und nicht bedarfsgerecht kritisiert. In einer am 17. Dezember
2004 veröffentlichten Expertise stellte der Paritätische fest, dass die bei den einzelnen Ausgabepositionen in der Regelsatzverordnung vorgenommenen prozentualen Abschläge
zum Teil kaum, zum Teil außerordentlich sachfremd und fehlerhaft begründet wurden. Im Ergebnis kam die Expertise zu dem Schluss, dass der durch diese Regelsatzverordnung
für das Jahr 2005 angesetzte Regelsatz, dem Statistikmodell folgend, um 19 Prozent zu niedrig angesetzt war, um tatsächlich von einer sachgerechten Umsetzung des Statistikmodells sprechen zu können. Statt 345 Euro für einen Erwachsenen hätte der Regelsatz danach 412 Euro betragen müssen.
• Da die Entwicklung des Rentenwertes seit 2003 einheitlich verläuft, erfolgte seither keine Anpassung der Regelsätze an die Preisindizes seit Januar 2003. Dies führt zu einem
Absinken des Realwertes der Regelsätze. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband hat für die Jahre 2003 bis 2009 einen Verlust von jährlich 5,5% errechnet.
• Mit weitgehender Pauschalierung können die entwicklungsbedingten Bedarfe von Kindern oder besondere krankheitsbedingte Belastungen z.B. von chronisch Kranken nun nicht mehr über Leistungen nach dem Sozialhilferecht – Hilfe in besonderen Lebenslagen – ergänzend zum Regelsatz gewährt werden.
• Mit dem Inkrafttreten des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes im Jahre 2004 leisten
auch erwachsene SozialhilfeempfängerInnen – darunter insbesondere Pflegebedürftige, Menschen mit Behinderungen und Suchtkranke sowie SGB II Leistung- Beziehende
Zuzahlungen bis zu einer maximalen Belastungsgrenze von ca. 72 Euro (36 Euro für chronisch Kranke) pro Jahr. In der den Regelsatzberechnungen zugrunde liegenden EVS aus dem Jahre 2003 waren nicht nur die Sozialhilfeempfänger, sondern auch eine große Anzahl von Personen in der Referenzgruppe von den Zuzahlungsregelungen befreit.
Zugleich waren die Zuzahlungen entweder der Höhe nach (Medikamente) deutlich niedriger oder sind gar nicht angefallen (Praxisgebühr). Zusätzlich fallen heute auch für
ALG II Beziehende und Sozialgeldempfänger Ausgaben für nichtverschreibungspflichtige Medikamente (OTC) an. Auch diese Ausgaben konnten nicht in der EVS 2003 abgebildet werden. Zugleich sind Regelungen zur Übernahme von
Kosten für die Empfängnisverhütung für über 18-Jährige weder über die Grundsicherung noch über Krankenversicherungsleistungen abgedeckt. Diese Zuzahlungen nach dem SGB V sowie Ausgaben über nicht verschreibungspflichtige Medikamente wurden bislang nicht systematisch bei der Bemessung der Regelleistung einbezogen. Aufwendungen hierfür mindern also den verfügbaren Regelsatz.
II. Chance zur Anpassung der Regeleistung an die gestiegenen Lebenshaltungskosten und gesetzliche Änderungen wurde verspielt
1. Die Bundesregierung hat im Jahr 2006 einige Veränderungen an den Sozialgesetzen vorgenommen, hier sind das erste Gesetz zur Änderung des SGB II, das Gesetz zur Änderung des SGB XII und anderer Gesetze sowie die Erste Verordnung zur Änderung der Regelsatzverordnung zu nennen. So wurde auf vielfachen politischen Druck hin die erforderliche Klarstellung zur Regelung der einmaligen Leistungen bei Schwangerschaft und Geburt vorgenommen.
Der Gesetzgeber hat im SGB II und im SGB XII die anlässlich der Geburt eines Kindes erforderliche Babyerstausstattung als zulässige einmalige Leistung vorgesehen. In der Praxis führte der unklare Wortlaut dieser Regelung allerdings häufig dazu, dass die zuständigen Leistungsträger lediglich Babykleidung als einmalige Leistung gewährten, weitere
notwendige Erstausstattungen wie Kinderwagen, Wickeltisch oder Babybett dagegen verweigerten.
2. Neben dieser und einigen anderen Klarstellungen und Verbesserungen wurde jedoch eine weitere schwerwiegende Einschränkung vorgenommen. So wurde im Gesetz definiert, dass der Katalog der einmaligen Leistungen und anerkannten Mehr-aufwände abschließend gemeint sei und keine anderen Ausnahmetatbestände geltend zu machen seien, sondern in
gegebenem Fall auf die Gewährung von Darlehn zurückgegriffen werden müsse. Diese Regelung macht es den örtlichen Trägern der Grundsicherung unmöglich Leistungen in besonderen Notlagen als Beihilfe zu gewähren, sie können fortan ausschließlich als mit der laufenden Grundsicherung in Raten rückzahlbare Darlehn gewährt werden.
3. Im Rahmen der Auswertung der Einkommens- und Verbrauchstichprobe 2003 wurden die Regelsätze für die Leistungen nach dem SGB II (Arbeitslosengeld II und Sozialgeld) und dem SGB XII zum 1.1.2007 auf gleichmäßig 345 Euro im gesamten Bundesgebiet festgelegt.
Dabei wurden die Regelsätze für die Leistungen in den Neuen Bundesländern angehoben, die in den alten Bundesländern blieben auf gleichem Niveau. Mit der Angleichung der Regelsätze auf Westniveau reagierte die Bundesregierung zwar auf gestiegene Lebenshaltungskosten in Ostdeutschland. Sie korrigierte aber nicht die Mängel der bisherigen Ermittlung der Regelsätze auf Grundlage der alten EVS, sondern nahm lediglich Verschiebungen zwischen den einzelnen Verbrauchsgruppen vor, um das politische Ziel der Beibehaltung des bisherigen Regelsatzes in Höhe von 345 Euro zu erreichen. Zudem ließ sie die erkennbare Entwicklung
durch die erhöhten Verbrauchs- und Energiepreise im gesamten Bundesgebiet außer Acht. So wurden weder die in den letzten Jahren enorm gestiegenen Strompreise noch
die zu erwartenden Preissteigerungen durch die Mehrwertsteuererhöhung berücksichtigt.
III. Der Landtag stellt fest:
Mehrwertsteueranhebung belastet die Haushalte von Grundsicherung beziehenden Haushalten
Die Mehrwertsteuer ist mit Wirkung vom 1.1. 2007 von 16% auf 19% angehoben worden. Die Mehreinnahmen sollen zu einem Teil zur Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4,5 % verwandt werden; zugleich wurde jedoch auch der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung um 0,4% Punkte angehoben. Die Mehrwertsteuer kann keine systematische Entlastung des Existenzminimums durch einen Grundfreibetrag gewährleisten,
vielmehr belastet sie ärmere Haushalte relativ zu ihren Einkommen stärker als reichere, da sie einen höheren Anteil ihres Einkommens als Konsumausgaben direkt ausgeben
müssen und eine geringere bzw. keine Sparquote haben. Arbeitslose und Rentnerinnen und Rentner profitieren zudem nicht von der Entlastung bei den Sozialbeiträgen.
Das DIW hat im Jahr 2005 anlässlich der Debatte um die Erhöhung der Mehrwertsteuer in einer Modellrechnung auf Grundlage der EVS 2003 errechnet, dass die Koalitionsentscheidung zur Mehrwertsteuererhöhung bei gleichzeitiger Absenkung der Sozialbeiträge im Ergebnis
die unteren Einkommensgruppen kurzfristig und langfristig belasten wird. Danach führt die Mehrwertsteuererhöhung bei Haushalten mit geringem Einkommen zu einer spürbaren
Mehrbelastung bezogen auf das laufende Einkommen, die durch die ermäßigten Steuersätze für Lebensmittel oder den öffentlichen Personennahverkehr sowie die unechten Steuerbefreiungen für Wohnungskosten und Gesundheitsdienstleistungen nur unzureichend abgemildert
wird. In Relation zu den ausgabefähigen Einkommen und Einnahmen müssen die unteren 20% der Haushaltseinkommen einen langfristigen Einkommensverlust von 1,89 - 1,39% hinnehmen, Arbeitslose einen Verlust von 1,79 bis 1,39% und RentnerInnen einen Verlust von 2,11 bis 1,49%.
IV. Der Landtag fordert die Landesregierung auf, über den Bundesrat darauf hinzuwirken, dass
o die Regelsätze zur Grundsicherung im SGB XII und analog im SGB II an den erhöhten Mehraufwand der Haushalte durch die Mehrwertsteuer schnellst möglich bundesweit angepasst werden; sollte dies erfolglos sein, wird
V. Die Landesregierung beauftragt,
zum 01. Juli 2007 von der Ermächtigung der Länder zur abweichenden Festlegung der Regelsatzhöhe Gebrauch zu machen und den Regelsatz an die erhöhten Mehraufwendungen
durch den erhöhten Mehrwertsteuersatz anzupassen, zu den weiteren Kritikpunkten zur Regelsatzhöhe Veränderungsvorschläge vorzulegen.
Sylvia Löhrmann
Johannes Remmel
Barbara Steffens
und Fraktion
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LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN
14. Wahlperiode
Drucksache 14/3644
30.01.2007
Datum des Originals: 30.01.2007 /Ausgegeben: 30.01.2007
Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN
Regelsatzhöhe wegen der Mehrwertsteuererhöhung anpassen
I.
1. Mit der Einführung des SGB II und des SGB XII zum 1.1. 2005 wurden die sozialhilfrechtlichen Grundlagen zur Festlegung und Gewährung der Grundsicherung bei Erwerbslosigkeit sowie im Alter und bei Erwerbsminderung neu festgelegt. Ein neuer pauschalierter Regelsatz
bestimmt seither Niveau und Struktur von Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) und Arbeitslosegeld II bzw. Sozialgeld. Sie sind nun im Wesentlichen gleich gestaltet. Ebenso gilt dies für die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit nach § 28 Absatz 1 SGB XII. Für LeistungsempfängerInnen in Einrichtungen ist der Regelsatz gleichfalls wichtig, da sich der Barbetrag zur persönlichen Verfügung (Taschengeld, § 35 SGB XII)
am Regelsatz orientiert. Darüber hinaus richten sich die Grund- und Kinderfreibeträge in der Einkommensteuer und das steuerlich zu verschonende Existenzminimum – nach dem im
Sozialhilferecht anerkannten Mindestbedarf. Weitere Bereiche haben zwar keinen unmittelbaren gesetzlichen Zusammenhang, werden aber durch den Regelsatz berührt: der Kinderzuschlag (§ 6a Bundeskindergeldgesetz), die Pfändungsfreigrenzen in der Zivilprozessordnung
und das Asylbewerberleistungsgesetz.
2. Kerngedanke der Reform war eine bedarfsgerechte pauschalierte Grundsicherung, die das sozioökonomische Existenzminimum auf der Grundlage eines transparenten Herleitungssystems abdecken sollte. Die Pauschalierung führte dazu, dass die meisten bisherigen einmaligen Leistungen als Pauschale in den Regelsatz integriert auf den bisherigen Regesatz aufgeschlagen wurden. Seither werden nur in drei Fällen nicht pauschalierbare einmalige
Leistungen gewährt: die Erstausstattungen für Wohnungen, Erstausstattungen bei Schwangerschaft und Geburt und mehrtägige Klassenfahrten (§ 37 SGB XII).
Die Festlegung der Grundsicherung orientiert sich nun an den Verbrauchsgewohnheiten von unteren Einkommensgruppen (Statistikmodell). Datenquelle ist die „Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe“ des Statistischen Bundesamtes (EVS), die alle fünf Jahre erhoben wird. Mit Vorliegen der nächsten EVS kann also alle fünf Jahre eine Überprüfung und ggf. Anpassung der Höhe und Struktur vorgenommen werden. Die Fortschreibung wird gemäß der Regelsatzverordnung anhand des jeweiligen aktuellen Rentenwertes der gesetzlichen Rentenversicherung jährlich zum 1. Juli vorgenommen. Die Länder sind ermächtigt, abweichnde
Regelungen zur Festsetzung und Ermittlung der Regelsätze zu treffen. Sie können dabei die Träger der Sozialhilfe ermächtigen, auf der Grundlage von festgelegten Mindestregelsätzen regionale Regelsätze zu bestimmen.
3. An der Ermittlung des zugrunde zu legenden Bedarfs zur Abdeckung des sozioökonomischen Existenzminimums und an der Ausgestaltung der neuen pauschalierten Hilfegewährung gibt es seit Einführung der Gesetze deutliche Kritik:
• Die Ableitung der regelsatzrelevanten Anteile aus den Verbrauchssätzen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) wurde schon mit der ersten Festlegung in der
Regelsatzverordnung vom 3. Juni 2004 auch von den Wohlfahrtsverbänden als willkürlich, nicht transparent und nicht bedarfsgerecht kritisiert. In einer am 17. Dezember
2004 veröffentlichten Expertise stellte der Paritätische fest, dass die bei den einzelnen Ausgabepositionen in der Regelsatzverordnung vorgenommenen prozentualen Abschläge
zum Teil kaum, zum Teil außerordentlich sachfremd und fehlerhaft begründet wurden. Im Ergebnis kam die Expertise zu dem Schluss, dass der durch diese Regelsatzverordnung
für das Jahr 2005 angesetzte Regelsatz, dem Statistikmodell folgend, um 19 Prozent zu niedrig angesetzt war, um tatsächlich von einer sachgerechten Umsetzung des Statistikmodells sprechen zu können. Statt 345 Euro für einen Erwachsenen hätte der Regelsatz danach 412 Euro betragen müssen.
• Da die Entwicklung des Rentenwertes seit 2003 einheitlich verläuft, erfolgte seither keine Anpassung der Regelsätze an die Preisindizes seit Januar 2003. Dies führt zu einem
Absinken des Realwertes der Regelsätze. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband hat für die Jahre 2003 bis 2009 einen Verlust von jährlich 5,5% errechnet.
• Mit weitgehender Pauschalierung können die entwicklungsbedingten Bedarfe von Kindern oder besondere krankheitsbedingte Belastungen z.B. von chronisch Kranken nun nicht mehr über Leistungen nach dem Sozialhilferecht – Hilfe in besonderen Lebenslagen – ergänzend zum Regelsatz gewährt werden.
• Mit dem Inkrafttreten des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes im Jahre 2004 leisten
auch erwachsene SozialhilfeempfängerInnen – darunter insbesondere Pflegebedürftige, Menschen mit Behinderungen und Suchtkranke sowie SGB II Leistung- Beziehende
Zuzahlungen bis zu einer maximalen Belastungsgrenze von ca. 72 Euro (36 Euro für chronisch Kranke) pro Jahr. In der den Regelsatzberechnungen zugrunde liegenden EVS aus dem Jahre 2003 waren nicht nur die Sozialhilfeempfänger, sondern auch eine große Anzahl von Personen in der Referenzgruppe von den Zuzahlungsregelungen befreit.
Zugleich waren die Zuzahlungen entweder der Höhe nach (Medikamente) deutlich niedriger oder sind gar nicht angefallen (Praxisgebühr). Zusätzlich fallen heute auch für
ALG II Beziehende und Sozialgeldempfänger Ausgaben für nichtverschreibungspflichtige Medikamente (OTC) an. Auch diese Ausgaben konnten nicht in der EVS 2003 abgebildet werden. Zugleich sind Regelungen zur Übernahme von
Kosten für die Empfängnisverhütung für über 18-Jährige weder über die Grundsicherung noch über Krankenversicherungsleistungen abgedeckt. Diese Zuzahlungen nach dem SGB V sowie Ausgaben über nicht verschreibungspflichtige Medikamente wurden bislang nicht systematisch bei der Bemessung der Regelleistung einbezogen. Aufwendungen hierfür mindern also den verfügbaren Regelsatz.
II. Chance zur Anpassung der Regeleistung an die gestiegenen Lebenshaltungskosten und gesetzliche Änderungen wurde verspielt
1. Die Bundesregierung hat im Jahr 2006 einige Veränderungen an den Sozialgesetzen vorgenommen, hier sind das erste Gesetz zur Änderung des SGB II, das Gesetz zur Änderung des SGB XII und anderer Gesetze sowie die Erste Verordnung zur Änderung der Regelsatzverordnung zu nennen. So wurde auf vielfachen politischen Druck hin die erforderliche Klarstellung zur Regelung der einmaligen Leistungen bei Schwangerschaft und Geburt vorgenommen.
Der Gesetzgeber hat im SGB II und im SGB XII die anlässlich der Geburt eines Kindes erforderliche Babyerstausstattung als zulässige einmalige Leistung vorgesehen. In der Praxis führte der unklare Wortlaut dieser Regelung allerdings häufig dazu, dass die zuständigen Leistungsträger lediglich Babykleidung als einmalige Leistung gewährten, weitere
notwendige Erstausstattungen wie Kinderwagen, Wickeltisch oder Babybett dagegen verweigerten.
2. Neben dieser und einigen anderen Klarstellungen und Verbesserungen wurde jedoch eine weitere schwerwiegende Einschränkung vorgenommen. So wurde im Gesetz definiert, dass der Katalog der einmaligen Leistungen und anerkannten Mehr-aufwände abschließend gemeint sei und keine anderen Ausnahmetatbestände geltend zu machen seien, sondern in
gegebenem Fall auf die Gewährung von Darlehn zurückgegriffen werden müsse. Diese Regelung macht es den örtlichen Trägern der Grundsicherung unmöglich Leistungen in besonderen Notlagen als Beihilfe zu gewähren, sie können fortan ausschließlich als mit der laufenden Grundsicherung in Raten rückzahlbare Darlehn gewährt werden.
3. Im Rahmen der Auswertung der Einkommens- und Verbrauchstichprobe 2003 wurden die Regelsätze für die Leistungen nach dem SGB II (Arbeitslosengeld II und Sozialgeld) und dem SGB XII zum 1.1.2007 auf gleichmäßig 345 Euro im gesamten Bundesgebiet festgelegt.
Dabei wurden die Regelsätze für die Leistungen in den Neuen Bundesländern angehoben, die in den alten Bundesländern blieben auf gleichem Niveau. Mit der Angleichung der Regelsätze auf Westniveau reagierte die Bundesregierung zwar auf gestiegene Lebenshaltungskosten in Ostdeutschland. Sie korrigierte aber nicht die Mängel der bisherigen Ermittlung der Regelsätze auf Grundlage der alten EVS, sondern nahm lediglich Verschiebungen zwischen den einzelnen Verbrauchsgruppen vor, um das politische Ziel der Beibehaltung des bisherigen Regelsatzes in Höhe von 345 Euro zu erreichen. Zudem ließ sie die erkennbare Entwicklung
durch die erhöhten Verbrauchs- und Energiepreise im gesamten Bundesgebiet außer Acht. So wurden weder die in den letzten Jahren enorm gestiegenen Strompreise noch
die zu erwartenden Preissteigerungen durch die Mehrwertsteuererhöhung berücksichtigt.
III. Der Landtag stellt fest:
Mehrwertsteueranhebung belastet die Haushalte von Grundsicherung beziehenden Haushalten
Die Mehrwertsteuer ist mit Wirkung vom 1.1. 2007 von 16% auf 19% angehoben worden. Die Mehreinnahmen sollen zu einem Teil zur Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4,5 % verwandt werden; zugleich wurde jedoch auch der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung um 0,4% Punkte angehoben. Die Mehrwertsteuer kann keine systematische Entlastung des Existenzminimums durch einen Grundfreibetrag gewährleisten,
vielmehr belastet sie ärmere Haushalte relativ zu ihren Einkommen stärker als reichere, da sie einen höheren Anteil ihres Einkommens als Konsumausgaben direkt ausgeben
müssen und eine geringere bzw. keine Sparquote haben. Arbeitslose und Rentnerinnen und Rentner profitieren zudem nicht von der Entlastung bei den Sozialbeiträgen.
Das DIW hat im Jahr 2005 anlässlich der Debatte um die Erhöhung der Mehrwertsteuer in einer Modellrechnung auf Grundlage der EVS 2003 errechnet, dass die Koalitionsentscheidung zur Mehrwertsteuererhöhung bei gleichzeitiger Absenkung der Sozialbeiträge im Ergebnis
die unteren Einkommensgruppen kurzfristig und langfristig belasten wird. Danach führt die Mehrwertsteuererhöhung bei Haushalten mit geringem Einkommen zu einer spürbaren
Mehrbelastung bezogen auf das laufende Einkommen, die durch die ermäßigten Steuersätze für Lebensmittel oder den öffentlichen Personennahverkehr sowie die unechten Steuerbefreiungen für Wohnungskosten und Gesundheitsdienstleistungen nur unzureichend abgemildert
wird. In Relation zu den ausgabefähigen Einkommen und Einnahmen müssen die unteren 20% der Haushaltseinkommen einen langfristigen Einkommensverlust von 1,89 - 1,39% hinnehmen, Arbeitslose einen Verlust von 1,79 bis 1,39% und RentnerInnen einen Verlust von 2,11 bis 1,49%.
IV. Der Landtag fordert die Landesregierung auf, über den Bundesrat darauf hinzuwirken, dass
o die Regelsätze zur Grundsicherung im SGB XII und analog im SGB II an den erhöhten Mehraufwand der Haushalte durch die Mehrwertsteuer schnellst möglich bundesweit angepasst werden; sollte dies erfolglos sein, wird
V. Die Landesregierung beauftragt,
zum 01. Juli 2007 von der Ermächtigung der Länder zur abweichenden Festlegung der Regelsatzhöhe Gebrauch zu machen und den Regelsatz an die erhöhten Mehraufwendungen
durch den erhöhten Mehrwertsteuersatz anzupassen, zu den weiteren Kritikpunkten zur Regelsatzhöhe Veränderungsvorschläge vorzulegen.
Sylvia Löhrmann
Johannes Remmel
Barbara Steffens
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