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„Zukunft des Sozialstaates- Eigenverantwortung und Finanzierung“

Hans - Jürgen Urban

„Zukunft des Sozialstaates- Eigenverantwortung und Finanzierung“

Statement auf dem Gewerkschaft- und gesellschaftspolitischen Forum der IG Metall

am 11./12. Juni 2003 in Berlin

1. Ein unterschwelliger Strategiekonflikt im Gewerkschaftslager

Die Gewerkschaften befinden sich in einer schwierigen Situation. Nicht nur, dass der Druck von außen immer stärker zunimmt. Hinzu kommt, dass zwischen und mitunter auch innerhalb der Gewerkschaften ein Strategiekonflikt schwelt. An die Oberfläche kam er jüngst. Die „Uneindeutigkeiten“, mit denen führende Gewerkschafts-repräsentanten der Agenda 2010 in der Öffentlichkeit entgegengetreten sind, verweisen nicht bloß auf unterschiedliche Einschätzungen zu Einzelfragen der Sozial-, Beschäftigungs- und Finanzpolitik. Auch wir in der IG Metall streiten nicht zuletzt über die Frage, wie sich die Gewerkschaften gegenüber dem „Strategiewechsel“ verhalten sollten, den die Neue Sozialdemokratie seit geraumer Zeit eingeläutet hat und der in der Agenda 2010 zum Ausdruck kommt.

Dass es diesen Streit gibt ist nicht weiter verwunderlich. Seit geraumer Zeit leben wir in einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchperiode und die Zeiten sind reichlich unübersichtlich. Zugleich ist die IG Metall eine pluralistische und demokratische Organisation. Wen wundert es da, dass wir auch kontrovers um den richtigen Weg in die Zukunft ringen.

Ich möchte am Beispiel der widerstreitenden Leitbilder über die Zukunft des Sozialstaats deutlich machen, worum es geht. Dabei will ich nicht auf die soziostrukturellen und alltagskulturellen Aspekte der schleichenden Entfremdung zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften eingehen, sondern mich mit den politisch-strategischen Faktoren der „Zerrüttung der historischen Ehe“ zwischen beiden auseinander setzen.

II. Die Konturen des „neusozialdemokratischen Sozialstaates“

Auch wenn die sozialdemokratischen Parteien in Europa durchaus markante Unterschiede in den einzelnen Politikfeldern aufweisen, so lassen sich doch Konturen eines gemeinsamen, neuen Leitbildes der „Modernisierung“ der hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften erkennen. Die dahinter stehende Strategie wird gemeinhin „Dritter Weg“ bezeichnet. Sie beinhaltet einerseits eine Reihe neoliberaler und angebotsorientierter Theoreme und Politikziele: etwa eine bedingungslose Haushaltskonsolidierung, eine wettbewerbspolitisch begründete Senkung der Steuer- und Arbeitskostenbelastung der Wirtschaft, die Befürwortung einer restriktiven Geldpolitik, der Rückzug des Staates aus der Wirtschaftssteuerung usw. Und doch bedeutet der „Dritte Weg“ nicht einfach die Fortsetzung des Neoliberalismus mit anderen Mitteln. Er stellt einen eigenständigen Strategieentwurf für Wirtschaft, Gesellschaft und Sozialstaat dar, der sich durchaus in wichtigen Punkten vom neoliberalen Marktradikalismus (aber auch von den gewerkschaftlichen Vorstellungen einer solidarischen Gesellschaft!) unterscheidet. Mit Blick auf den Sozialstaat läuft das Ganze darauf hinaus, den heutigen
„marktkorrigierenden Interventionsstaat“ in einen „aktivierenden Wettbewerbsstaat“ zu überführen. Was heißt das?

1. Von der Parität zur Eigenfinanzierung: Das neue Finanzierungsmodell des Sozialstaates

Das (Sozial-)Staatsverständnis der Neuen Sozialdemokratie ist ein Kind der Globalisierungs- und Standortdebatten. Ihre Prämissen und Zwänge haben es geprägt. Globalisierung und Standortwettbewerb werden einerseits durchaus als problematische Prozesse gewertet, die den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden und zum Ausschluss Vieler aus der Gesellschaft führen können. Dem soll der Sozialstaat entgegenwirken. Aber er darf dabei die Wirtschaft nicht belasten und die Attraktivität des heimischen Standortes nicht beeinträchtigen. Mehr noch: der globale Wettbewerbsdruck wird durchaus als eine Kraft begrüßt, die hilft, etablierte (von der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung erstrittene und verteidigte) sozialstaatliche Standards und Verteilungspolitik aufzubrechen. „Globalisierung als Chance zur Modernisierung“, heißt das dann in Statements von Wirtschaftsvertretern und Politikern.

Diese Art der Modernisierung bricht mit dem „sozialstaatlichen Klassenkompromiss“, der nach dem Zweiten Weltkrieg das westeuropäische Modell des Sozialstaats-Kapitalismus prägte. Der Schlüsselbegriff des „deutschen Modells“ lautete Parität. Dieses aus der Bismarck-Zeit stammende Prinzip gewann im Nachkriegsdeutschland eine ganz neue Bedeutung. Es brachte das nach dem Krieg herrschende relative Kräftegleichgewicht zwischen den sozialen Klassen zum Ausdruck. Zugleich wirkte die Parität als „gesellschaftliche Friedensformel“ (G. Lehmbruch), in dem sie den Kern eines gesellschaftsprägenden „Sozialkompromisses“ darstellte: Danach sollten sich Kapital und Arbeit in Betrieb und Gesellschaft auf „gleicher Augenhöhe“ begegnen; beide akzeptierten ihre sozialökonomischen Basisinteressen und der Staat verpflichtete sich in den gesellschaftspolitischen Kernfragen zu einer Politik des Interessenausgleichs. Der Gedanke der gesellschaftlichen Gleichwertigkeit von Kapital und Arbeit fand seinen Ausdruck in der Tarifautonomie und im Tarifvertragssystem, im Konzept der betrieblichen Mitbestimmung und eben in der paritätischen Finanzierung und Selbstverwaltung der Sozialversicherungen. Das Prinzip der Parität war also nicht nur eine Finanzierungstechnik, es beinhaltete die gesellschaftliche Vereinbarung, dass sich Kapital und Arbeit gleichgewichtig an der Finanzierung der sozialen Ausgestaltung der Gesellschaft beteiligen.

Die Neue Sozialdemokratie hat sich nun konzeptionell und in ihrer politischen Praxis vom Prinzip der Parität und dem damit verbundenen Gesellschaftsentwurf verabschiedet. Es soll durch das Prinzip der „Eigenfinanzierung des Sozialstaates“ durch die abhängig Beschäftigten und ihrer Unterordnung unter die allgemeinen „Wettbewerbszwänge“ ersetzt werden. Im Gegensatz zum neoliberalen Radikalismus setzt sie also nicht auf die Zerschlagung, sondern auf den wettbewerbsorientierten Um- und Rückbau des Sozialstaates und den globalisierungskompatiblen Umbau seines Finanzmodells. Die Kernbotschaft lautet: auch in Zeiten der Globalisierung/Europäisierung brauchen wir den Sozialstaat als Instanz zur Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Aber: Aus Wettbewerbsgründen können wir nicht mehr das „mobile Kapital“ und aus Motivationsgründen nicht mehr die „gesellschaftlichen Leistungsträger“ der Gut- bis Besserverdienenden (die sogenannte „neue Mitte“) mit seiner Finanzierung belasten. Statt dessen muss der weniger mobile „Faktor Arbeit“ das gewünschte Ausmaß an Sozialstaatlichkeit selbst finanzieren. Und da die „neue Mitte“ ebenfalls nicht mehr soviel Sozialstaat wie bisher will, sollte auch sie entlastet werden. Also: runter mit den „zu hohen“ Unternehmenssteuern, aber auch runter mit den „zu hohen“ (Spitzen)Steuersätzen der hohen Arbeitseinkommen und mit den „zu hohen“ Sozialbeiträgen; eben runter mit dem Sozialstaat und seinen Umverteilungssystemen zwischen den Klassen, aber auch innerhalb der Klasse der abhängig Beschäftigten.

Daraus ergeben sich die Anforderungen an ein neues Finanzierungsmodell: Es setzt zum einen auf einen allgemeinen „Rückbau“ der solidarisch finanzierten Sozialsysteme, etwa durch die Kürzung von Renten oder Arbeitslosengeld bzw. durch die Ausgliederung von Leistungen aus dem GKV-Leistungskatalog (und damit aus dem Solidarausgleich!); und es setzt zugleich auf einen „Umbau“ des Finanzierungssystems durch den Bruch mit der paritätischen Finanzierung zur Entlastung der Unternehmen. Hinzu kommen einseitige Belastungen der Lohnabhängigen durch die gewählten Varianten der Umbasierung von Sozialversicherungsleistungen. Da die Entlastung der Wirtschaft zu den Hauptzielen der „neuen Sozialpolitik“ gehört, kommen hier nur „arbeitskosten- und wettbewerbsunschädliche“ Finanzierungswege infrage. Beispiele gibt es auch hier genug. Die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge („Lohnnebenkosten“), an denen die Arbeitgeber beteiligt sind, werden über private Zuzahlungen und Risikoprämien, die Öko-Steuer, die Mehrwertsteuer usw. gegenfinanziert; also über Wege, die nur die abhängig Beschäftigten (als Bezieher von Arbeits- und Sozialeinkommen oder als Konsumenten) belasten.

Dieser neusozialdemokratische Umbau der Sozialstaatsfinanzierung müsste für die Gewerkschaften einige Fragen aufwerfen: Wie fällt die Verteilungsbilanz aus: zwischen Kapital und Arbeit, aber auch innerhalb der Einkommensgruppen der abhängig Beschäftigten? Wer sind die Gewinner und Verlierer? Oder: Wenn Parität als „soziale Friedensformel“ aufgekündigt wird, was tritt an ihre Stelle? Ist die Formel „Kapital geht vor Arbeit“ und „wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit vor soziale Sicherheit“ eine geeignete Formel für eine solidarische Gesellschaft? Und können die Gewerkschaften mit der systematischen Unterordnung der Arbeitsinteressen unter die „Standortinteressen“ wirklich leben?

2. Vom marktkorrigierenden zum aktivierenden Staat

Aber die Neue Sozialdemokratie will nicht nur die Spielregeln, nach den die gesellschaftlichen Gruppen zur Finanzierung des Sozialstaates beitragen, grundlegend ändern. Gleiches gilt für die Regeln, nach denen die sozialstaatlichen Leistungen verteilt werden. Das traditionelle Verständnis des Sozialstaates, dass Gewerkschaften und Sozialdemokratie einmal teilten, basierte auf der Einsicht in die Notwendigkeit staatlicher Gestaltung (,‚Regulierung“) von Ökonomie und Gesellschaft.(1 Dabei ging es vor allem um Schutz vor den bzw. Korrekturen der Fehlfunktionen des Marktes, es ging, wie es ein renommierter Sozialstaatsforscher einmal formuliert hat, um „Politics against markets“, also um „Politik fegen Märkte“ (G. Esping-Andersen).) Dieses Sozialstaatsverständnis beruhte u.a. auf folgenden Prämissen:

Erstens: Der Markt ist als wirtschaftlicher Mechanismus höchst produktiv, verteilt aber die Produktivitätserträge auf eine Weise, die ökonomisch krisenanfällig und wachstumshemmend und die gesellschaftspolitisch höchst ungleich und ungerecht ist.

Zweitens: Aus Gründen ökonomischer Effizienz und gesellschaftlicher Solidarität bedürfen diese Fehlentwicklungen der sozialstaatlichen Korrektur. Nur so kann der gesellschaftliche Zusammenhalt gewährleistet und verhindert werden, dass die „Teufelsmühle des Marktes“ (Karl Polany) solidarische Beziehungen zermahlt. Diese Korrekturen sollten z.B. durch eine krisenvermeidende Konjunktur- und Wachstumspolitik, eine umverteilende Steuer- und Transferpolitik, soziale Sicherungssysteme, geschützte Tarifautonomie und Arbeitnehmerrechte erfolgen.
Drittens: Sozialstaatliche Umverteilung stellt keine Fürsorgeleistung des „väterlichen Staates“ gegenüber den Untertanen dar. Der historische Fortschritt des demokratischen Sozialstaats bestand in der Durchsetzung und Anerkennung sozialer Bürgerrechte als der entscheidenden Grundlage sozialstaatlicher Leistungen.( 2 Als „social citizenship“ hat es der Sozialwissenschaftler Thomas H. Marshall in einer sehr einflussreichen Interpretation genannt. Inhaltlich ließe sich dieser Begriff als sozialer Bürgeranspruch oder soziales Bürgerecht bezeichnen.) Der Sozialstaat hat (im Bedarfsfall) eine soziale Bringschuld gegenüber dem Bürger, und nicht umgekehrt. Der Staat ist für den Bürger da, nicht der Bürger für den Staat.

Der „aktivierende Sozialstaat“ beruht auf ganz anderen Prämissen:

Erstens: Seine „aktivierende Sozialpolitik“ bezieht sich nicht mehr korrigierend oder einbettend, sondern weitgehend vorbehaltlos und unterstützend auf den Markt. Sie setzt nicht mehr auf Schutz vor den Märkten, sondern auf Öffnung und Förderung von Märkten. Sozialpolitik degeneriert vielfach zur Wirtschafts(förderungs)politik und zur Politik der Stärkung der Selbstbehauptungsfähigkeit des Einzelnen im Markt.

Zweitens: Die Aktivierungsstrategie beruht auf der richtigen Erkenntnis, dass die „Selbstheilungskräfte des Marktes“ bei der Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit versagen. Aber die daraus folgenden Interventionen setzen nicht am Zentralproblem eines unzureichenden Angebots akzeptabler Arbeitsplätze, sondern am angeblichen Fehlverhalten der Arbeitslosen an. („Mikropolitik“ statt „Makroökonomie“). Die Protagonisten des aktivierenden Sozialstaates sind der festen ‘Überzeugung, dass in Programatik und Politik der traditionellen Sozialdemokratie die Rechte des Einzelnen überbetont und seine Pflichten vernachlässigt wurden. Dies hat, so der Vorwurf, zu einer passiven Einrichtung des „sozialstaatlichen Klientel“ in den staatlichen Leistungssystemen geführt. Die Kerninnovation der neuen Politik soll nun darin bestehen, das Sozialstaatsklientel durch Strategien der „Aktivierung“ in Bewegung zu setzen und aus dieser Passivität herauszuholen.

Drittens: Diese Aktivierung soll vor allem durch den Rückbau sozialstaatlicher Leistungen und Schutzrechte geschehen, die den Einzelnen vor den Pressionen und Risiken des Marktes geschützt haben. Zukünftig sollen Marktdruck und Risiken den Einzelnen wieder stärker unter Druck setzten. Ergänzt werden soll diese Aktivierung durch materielle Hilfen, die aber insgesamt deutlich niedriger ausfallen als die vorherigen Leistungen. Im Vergleich zum traditionellen Sozialstaat soll der aktivierende Staat ein „schlanker Staat“ sein. ( 3 In der Praxis arbeitet der aktivierende Sozialstaat in der Regel mit einer Mischung aus materiellen Leistungskürzungen bzw. verschärften Zugangsvoraussetzungen und — in einigen Fällen — vergleichsweise geringe materielle Hilfen für gewünschte Verhaltensweisen. Beispiele aus der neueren Sozialpolitik der rot-grünen Bundesregierung gibt es genug: Etwa in der Alterssicherungspolitik. Da die Arbeitnehmerinnen bisher nur in geringem Umfang bereit (oder in der Lage!) waren, Teile ihres Entgeltes in private und über die Kapitalmärkte refinanzierte Versicherungssysteme zu investieren und sich mehr oder weniger auf die gesetzliche Rente verlassen haben, half bzw. hilft der aktivierende Staat nach. Rentenkürzungen, höhere gesetzliche Altersgrenzen und Beitragsentlastungen der Arbeitgeber greifen ineinander, um Arbeitnehmerinnen zu „aktivieren“, Einkommensbestandteile in kapitalgedeckte Vorsorgesysteme zu investieren und zugleich länger im „aktiven Arbeitsleben“ zu verbleiben).

Viertens: Konzeptionell verabschiedet sich der aktivierende Sozialstaat nicht nur von einer marktkorrigierenden Verteilungspolitik, sondern auch weitgehend von der Idee „sozialer Bürgerrechte“. Er kehrt die „sozialpolitische Bringschuld“ um. Nicht die sozial-staatliche Verantwortung für das Wohlergehen des Einzelnen, sondern die Verantwortung des Einzelnen für das „Gemeinwohl“ (das heißt vor allem: die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und die Entlastung des Steuerstaates) stehen im Vordergrund. Der aktivierende Sozialstaat geht deshalb nicht zufällig mit einer neuen Rhetorik „staatsbürgerlicher Pflichten“ und teilweise mit einer neuen Art der Verachtung und Diffamierung kollektiver Rechte einher.

Fünftens: In der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik geht der aktivierende Sozialstaat mit dem gezielten und systematischen Ausbau eines geringer geschützten Niedriglohnsektors einher. Die durch Aktivierungsstrategien zu besetzenden Arbeitsplätze sind in der Regel keine produktiven Hochlohnarbeitsplätze in Zukunftssektoren. (Beispiel: „Hartz-Reform“ und „Mini- und Midi-Jobs“). Da „prinzipiell jede Arbeit zumutbar ist“ (Wolfgang Clement) werden die Sanktionen bei Ablehnung von angebotenen Arbeitsplätzen verschärft. Kriterien der Qualität der Arbeit, Berufsschutz, vorhandene Kompetenzen oder Ansprüche verlieren weitestgehend an Bedeutung. Gerade mit Blick auf die „Vermittlung“ dieser Arbeitsplätze neigt der aktivierende Sozialstaat verstärkt zu „neuen Formen der Zwangsarbeit“ und einem „neuen Autoritarismus“, wie es der liberale Sozialwissenschaftler Ralf Dahrendorf genannt hat. Dabei unterstützt die Abwendung von der Idee der sozialen Bürgerrechte und die Hinwendung zur aktivierende Staatshilfe die Tendenz, den Zwang zur Annahme ungeschützter Arbeit als „Instrument sozialer Kontrolle“ (ebenfalls Ralf Dahrendorf) zu missbrauchen. Arbeit droht ihren emanzipatorischen Charakter zu verlieren.

Für die aktuelle politische Debatte und die gewerkschaftliche Positionierung sind vor allem zwei Umstände wichtig. Zum einen: Dem Gedanken der „Aktivierung“ durch Leistungskürzung und der Strategie der gewährten bzw. abgeforderten Hilfe zur Selbsthilfe mag in der Theorie noch sozialverträgliches abgewinnen zu sein. In dem Maße, in dem sich die aktivierende Sozialpolitik mit dem Übermaß an Arbeitslosigkeit infolge einer falschen Wirtschaft- und Beschäftigungspolitik konfrontiert sieht und sie zugleich in den Sog der durch das Euro-Regime verstärkten Spar-Hysterie (Stichwort: „Stabilitätspakt“) gerät, rücken die autoritären und auf Leistungskürzungen zielende Komponenten in den Vordergrund. Zum zweiten: Wer den Begriff des aktivierenden Sozialstaats übernimmt, signalisiert die Bereitschaft zur Übernahme der theoretischen und praktischen Prämissen - ob er will oder nicht!

III. Eckpunkte eines gewerkschaftlichen Gegenentwurfs

Das Sozialstaats-Projekt der Neuen Sozialdemokratie ist ein „Projekt der Erschöpften“. Es bringt die Erschöpfung der historischen Widerstandskraft der Sozialdemokratie gegen die (ökonomisch kontraproduktiven und gesellschaftlich zerstörerischen) Wirkungen des unregulierten Marktes zum Ausdruck.(4 In der gegenwärtigen politikwissenschafflichen Debatte ist der hier gemeinte Prozess als kontinuierlicher Prozess der politischen Deradikalisierung beschrieben worden: „Betrachtet man das 20.Jahrbundert aus der Vogelperspektive, lässt die europäische Sozialdemokratie eine klare Linie erkennen: Sie verläuft von der radikalen Ablehnung der bürrgerlich-kapitalistischen Ordnung, der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln über die Akzeptanz einer wohlfahrtsstaatlich gebändigten und keynesianischen gesteuerten Marktwirtschaft bis hin zur Anerkennung gesellschaftlicher Ungleichheit als legitimes und ökonomisch-funktionales Stratifikationsmuster hochentwickelter Marktgesellschaften unter Bedingungen globaler ökonomischer Transaktionen. Damit lässt sich über hundert Jahre ein kontinuierlicher Prozess der politischen Deradikalisierung erkennen.“ (W. Merkel, Die Dritten Wege der Sozialdemokratie ins 21.Jahrbundert, in:
Berliner Journal für Soziologie, 2/2000, S. 99-124). Wo dieser Weg wohl enden mag?). Als ein Konzept der „politischen Schadensbegrenzung“ versucht es die Folgeschäden übermächtiger Märkte zu begrenzen; aber Schadensbegrenzung bedeutet eben auch Inkaufnahme des Restschadens. Und dieser besteht in der Zurückdrängung von Verteilungsfairness, sozialer Sicherheit, sozial und ökonomisch begründeter Umverteilung und gesellschaftlichen Zusammenhalts. Aus diesen Gründen entwickelt das neue Sozialstaatsmodell weder Ausstrahlungskraft noch Aufbruchsstimmung oder gar Reformeuphorie; und aus diesen Gründen wirken die aus ihm abgeleiteten politischen Projekte, wie etwa die Agenda 2010 von Bundeskanzler Gerhard Schröder, so „mutlos“ und „blutleer“ (Klaus Zwickel).

Für die Gewerkschaften bietet sich hier keine zukunftstaugliche Perspektive:

Zum einen, weil diese Politik ökonomisch nicht funktioniert, sondern sich als pro-zyklische Krisenpolitik erweist. Sie beseitigt weder Arbeitslosigkeit noch Staatsschulden, sondern heizt beides an; sie fördert wirtschaftliches Wachstum nicht, sondern bremst es usw.. Die Praxis spricht Bände.
Zweitens, weil diese Strategie die Interessen der Arbeit systematisch denen des Kapitals und einer anonymen Standortwettbewerbsfähigkeit unterordnet und damit das sozial-emanzipatorische Potenzial, das eine wirtschaftlich wie gesellschaftlich produktive Funktion des sozialstaatlichen Klassenkompromisses war, verschleudert; und weil sie keine für Gewerkschaften akzeptable Vorstellung eines neuen gesellschaftsprägenden Sozialkompromisses enthält.

Schließlich weil dieses Gesellschafts- und Sozialstaatsmodell schwache, jedenfalls keine starken und autonome Gewerkschaften braucht, sondern für sie lediglich die Rolle des mehr oder weniger kritischen Juniorpartners in Modernisierungs-Pakten (wie etwa das „Bündnis für Arbeit“) bereithält, in denen für die abhängig Beschäftigten nicht viel zu holen ist.

Die Gewerkschaften würden, ließen sie sich darauf ein, die Akzeptanz ihrer Mitgliedschaft verlieren und setzten ihre Zukunft als politische Gegenmacht- und Reformkraft und damit letztlich auch das organisationspolitischen Überleben aufs Spiel. Die Zustimmung zum Rück und Umbau des Sozialstaates, zu tarifpolitischer Bescheidenheit und die Einordnung in Standortbündnisse schafft keine Mitgliederbindung. Somit scheidet der Weg in den „aktivierenden Wettbewerbsstaat“ Wir die Gewerkschaften, jedenfalls für die IG Metall, als Zukunftspfad aus!

Aber: Die erbitterte Verteidigung des Status quo scheidet selbstredend ebenso aus! Denn dieser ist durch die tiefgreifenden Probleme geprägt, die Wirtschaft und Gesellschaft blockieren und die Gewerkschaften in die Defensive gedrängt haben. Was sollten wir an einem gesellschaftlichen Zustand verteidigen, der durch eine Massenarbeitslosigkeit von gegenwärtig 4,3 Mio. (bzw. eine reale Beschäftigungslücke von ca. 7 Mio. Arbeitsplätzen), durch eine permanente Finanzkrise des Steuerstaates (infolge der steuerpolitischen Selbstplünderung der öffentlichen Haushalte und der Arbeitsmarktkrise) und steigende Abgabenbelastungen der Arbeitseinkommen (infolge von Umverteilung und Massenarbeitslosigkeit) geprägt ist.

Notwendig ist also ein radikaler Politikwechsel, allerdings nicht in Richtung der „politischen Mitte“. Wenn man so will: ein neuer Weg nicht ‚jenseits von Rechts und Links“ (Anthony Giddens), sondern jenseits von Status quo und „Drittem Weg“. Wenn die Gewerkschaften daran mitarbeiten wollen, Wirtschaft und Gesellschaft auf einen anderen Entwicklungspfad zu bringen und wenn sie sich dafür als autonome Reformkraft engagieren wollen, reichen reine Verteidigungsstrategien nicht aus. Gerade dann wachsen die Anforderungen an die eigene Fähigkeit, der schlechte Gegenwart sowie den neusozial-demokratischen Politikkonzepten alternative Strategieentwürfe entgegenzusetzen. Und das gilt nicht zuletzt mit Blick auf den Sozialstaat.

1. Die zentrale Ausgangseinsicht

Am Beginn der Entwicklung eigener Strategieentwürfe muss eine realitätstaugliche Einschätzung von Stärken und Schwächen unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems stehen. Zu den Stärken gehören die Entfaltung der Arbeitsproduktivität sowie die politische Demokratie. Aber gerade die „kapitalistische Privatwirtschaft“ (Max Weber) hat auch strukturelle Defizite. „Die hervorstechenden Fehler der wirtschaftlichen Gesellschaft, in der wir leben, sind ihr Versagen, für Vollbeschäftigung Vorkehrung zu treffen und ihre willkürliche und unbillige Verteilung des Reichtums und der Einkommen“, so hat es einmal John Maynard Keynes in einem Epoche machenden Buch formuliert, das auch eine Art wirtschaftspolitisches Regiebuch für den historisch einmaligen Erfolg der Nachkriegssozialdemokratie geliefert hat.( 5 J. M. Keynes., Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Berlin 2000 (1936), S. 314.). Man mag nun daran Zweifel anmelden, ob die stark nationalökonomischen Politikempfehlungen (beschäftigungsorientierte Geldpolitik,, öffentliche Investitionslenkung, staatliche Nachfragestärkung), die Keynes aus seiner Analyse der Defizite der selbstregulierten Marktwirtschaft ableitet, die Transnationalisierung („Globalisierung/Europäisierung“) von Ökonomie und Politik schadlos überstanden haben. (6 Auch ich plädiere für einen „wachstumspolitiscb geläuterten Euro-Keynesianismus“, wie ihn etwa die „Euro Memo-Gruppe“ vorschlägt; einen Keynesianismus, der die stark konjunkturpolitische Schlagseite zugunsten der Aufwertung struktur- und ordnungspolitischer Interventionen relativiert; der stärkeres Augenmerk auf die soziale Qualität ökonomischen Handels richtet; der ökologische Nachthaltigkeit wirtschaftlichen Handelns als zentrales Politikziel integriert und der schließlich auf europäischer Ebene konzipiert und praktiziert wird.)

Doch wer wollte bezweifeln, dass die Instabilitäten einer zunehmend deregulierten Marktökonomie durch die Transnationalisierungsprozesse eher zu- als abgenommen haben. Massenarbeitslosigkeit sowie die wirtschaftlich schädliche und gesellschaftlich ungerechte Verteilung der ökonomischen Wertschöpfung haben durch Globalisierung und Europäisierung an Brisanz gewonnen, nicht eingebüßt! Und das belegt: Solange wir in einer kapitalistischen Privatwirtschaft leben, bedürfen Markt und Gesellschaft der bewussten Regulierung durch den demokratischen Sozialstaat. Der wettbewerbs-orientierte Rück- und Umbau des Sozialstaates zum Zwecke der Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, der Attraktivität des Standortes oder der Förderung von Beschäftigung produziert Nebenfolgen, die hohe wirtschaftliche und politische Folgekosten erzeugen. Das hat die Neue Sozialdemokratie vergessen oder verdrängt und deshalb erweist sie sich vielfach als so hilflos gegenüber wirtschaftlichen und sozialen Fehlentwicklungen, die ihr in Deutschland zunehmend die Zustimmung ihrer Wählerlnnen kosten. Nicht die Frage ob, sondern wie die sozialstaatliche Regulierung der kapitalistischen Privatwirtschaft angesichts der grundlegend veränderten Rahmenbedingungen aussehen muss, sollte Gegenstand der Reformdebatte sein.

2. Antizyklische Krisenüberwindung statt prozyklischer Krisenverschärfung

Eine neue, solidarische Modernisierung des Sozialstaates kann nur auf der Grundlage einer neuen Wirtschafts-, Finanz- und Beschäftigungspolitik gelingen. Die aktuelle Politik der Steuergeschenke an die Wirtschaft und der Kürzung öffentlicher Ausgaben und sozialer Leistungen endet in öffentlichen und privaten Nachfragedefiziten; diese führen zu einer Unterauslastung der volkswirtschaftlichen Produktionskapazitäten und damit zu einem Rückgang der privatwirtschaftlichen Investitionsnachfrage. Die Wirtschaft stagniert und zu den Einnahmeausfällen infolge unternehmerischer Steuerentlastungen gesellen sich stagnationsbedingte Steuerausfälle. Zugleich setzen die Kosten der Massenarbeitslosigkeit Staatshaushalte und Sozialkassen weiter unter Druck. Die öffentlichen Defizite müssen erhöht und eine neue Sparrunde aufgelegt werden - und der Teufelskreis beginnt von vorne. Genau das ist eines der Probleme mit der Agenda 2010. Schätzungen zufolge dürfte sie zum Verlust von etwa 100.000 Arbeitsplätzen führen.

Diese Politik ist perspektivlos: sie führt zu weniger Wachstum sowie zu mehr Schulden und Arbeitslosigkeit. Zu Recht fordern die Gewerkschaften eine wirtschaftspolitische Umkehr, z.B. durch:

• ein öffentliches Zukunftsinvestitionsprogramm zur Modernisierung der sozialen und ökologischen Infrastruktur und zur Erzeugung der dringend notwendigen Wachstumsimpulse;

• den Verzicht auf Kürzung von Sozialeinkommen (Renten, Arbeitslosengeld und —hilfe usw.), um die „konjunkturellen Stabilisatoren“ wirken zu lassen;

• eine ökonomisch wachstumsfördernde und sozial gerechte Reform des Steuersystems (der Körperschaftsteuer, der Vermögens- und Erbschaftssteuer, der Einführung einer Börsenumsatzsteuer), um die Finanzmittel für die öffentlichen Aktivitäten zu erschließen und die volkswirtschaftliche Nachfrage zu stabilisieren.

3. Elemente eines neuen solidarischen Finanzierungsmodells

Zu überprüfen ist aber auch das tradierte Modell der Sozialstaatsfinanzierung. Heute orientiert sich die Verteilung der Finanzierungslasten an zwei Prinzipien: zwischen den Versicherten, also „innerhalb der Klasse“ gilt das Prinzip der Leistungsfähigkeit (allerdings mit einer stark degressiven Wirkung oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen); zwischen Kapital und Arbeit, also zwischen den Klassen, gilt das Paritätsprinzip. Letzteres ist der Neuen Sozialdemokratie ein besonderer Dorn im Auge. Um es klar zu sagen: Es gibt Wir die Gewerkschaften keinen Anlass, bei der Reform der Finanzierung des Sozialstaates vom Strukturprinzip der gleichgewichtigen Aufteilung zwischen Kapital und Arbeit abzuweichen. Die Forderung nach Parität hält zu Recht an einer gerechten Aufteilung der Beitragslasten zwischen Kapital und Arbeit fest; und sie erzeugt einen ökonomischen Anreiz für die Unternehmen, kostentreihende Verhaltensweisen (wie Entlassungen, die Hinnahme gesundheitsschädigender Arbeitsbedingungen usw.) wenigstens in Grenzen zu halten, da sie über die steigenden Beiträge an den Folgekosten beteiligt sind.

Doch das Prinzip der gleichgewichtigen Beteiligung an den Sozialstaatskosten kann auch als Reformkompass außerhalb der direkten Beitragsfinanzierung dienen. So gibt es durchaus Gründe dafür, die starke Koppelung der Finanzierung der Sozialversicherungen an die Arbeitseinkommen zwar nicht gänzlich aufzuheben, wohl aber zu relativieren. Nicht aus Wettbewerbs- oder Beschäftigungsgründen. Die Lohnstückkostenentwicklung in Deutschland zeigt, dass der deutschen Wirtschaft aus der Entwicklung von Produktivität und Arbeitskosten gegenüber den meisten Konkurrenzstandorten eher komparative Vorteile als Nachteile erwachsen sind; und der deutsche Arbeitsmarkt wird nicht durch angeblich zu hohe Lohnnebenkosten, sondern durch unzulänglichen Konsum-, Staats- und Investitionsgüternachfrage stranguliert. Doch die Finanzierung der Sozialkassen aus der „volkswirtschaftlichen Lohnsumme“ stößt auf zwei andere Probleme. Zum einen ist sie als Finanzbasis in den letzten Jahren fast kontinuierlich erodiert, da der relative Wertschöpfungsanteil, den sich die Lohnabhängigen auf der primären Verteilungsebene sichern konnten, beständig zurückging (Stichwort: sinkende Lohnquote); und zum zweiten führt sie in dem Maße zu Ungerechtigkeiten, in dem volkswirtschaftliche (auch unter den abhängig Beschäftigten) die Einkommensbestandteile zunehmen, die nicht über die Erwerbsarbeit verteilt werden.

Diesen Ergiebigkeits- und Gerechtigkeitsproblemen kann prinzipiell über drei Wege begegnet werden:

Erstens über die wertschöpfungsbasierte Umstellung des Arbeitgeberbeitrages bzw. die
Einführung einer additiven Wertschöpfungsabgabe der Unternehmen. Ziel einer solchen
Reform könnte sein, die arbeits- und beschäftigungsintensiven Betriebe weniger als
wertschöpfungsintensive zu belasten und damit den Wirtschaftsanteil zur
Sozialstaatsfinanzierung enger an die betriebliche Wertschöpfung anzubinden; oder einen
Schritt in Richtung Wiederherstellung der (durch Zuzahlungen und private Versicherungsprämien) zu Lasten der Versicherten beschädigten Parität zu gehen.

Ein zweiter Weg wäre die Anhebung des Steueranteils an den beitragsfinanzierten Sozialsystemen. Dadurch könnten gesamtgesellschaftliche Aufgaben, die zur Zeit von den Sozialversicherungssystemen gewährt und nur von den Beitragszahlern getragen werden, gerechter finanziert werden; zugleich könnte der Beitragssatz auf die Höhe herunter subventioniert werden, die man (aus welchen Gründen auch immer) für angemessen hält.

Schließlich käme die Ausweitung von Beitragspflicht und Versicherungsschutz auf alle Erwerbstätigen und die Ausweitung der Beitragspflicht auf weitere Einkommensarten (Kapital-, Miet- und Pachteinkommen) infrage. Die Finanzbasis der Sozialversicherungen würde breiter und stabiler und verlöre an Anhängigkeit gegenüber dem Ausfransen des sogenannten Normarbeitsverhältnisses; auch dadurch könnten die Beiträge entsprechend der zusätzlichen Einnahmen sinken.

Die Gewerkschaften haben die Neujustierung von Beitrags- und Steuermitteln und die
Weiterentwicklung der Arbeitnehmer- zu universellen Erwerbstätigenversicherungen
gefordert; und die Ausdehnung der Beitragspflicht auf alle Einkommensarten könnte unter der Bedingung einer entsprechenden verteilungspolitischen Ausgestaltung ebenfalls ein sinnvoller Weg werden. Die additive Wertschöpfungsabgabe der Unternehmen gewinnt in dem Maße an Plausibilität, indem die Zusatzbelastungen der Versicherten einseitig ausgeweitet werden.

Bei allen diesen Überlegungen kann und sollten die Prinzipien der Belastung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit sowie der Parität zwischen Kapital und Arbeit als Reformkompass dienen. Das bedeutet zum Beispiel: Auch wenn es nicht ohne Probleme möglich ist, bei einer Erhöhung des Steueranteils in den Sozialversicherungen eine exakte Parität in der Refinanzierung dieser Ausgaben zu sichern, so kann das Paritätskriterium als verteilungspolitische Orientierungsmarke dienen. Wenn etwa, wie in der gesetzlichen Krankenversicherung, die Parität bereits zu Lasten der mittleren versicherungspflichtigen Arbeitseinkommen verschoben ist, muss die Steuerfinanzierung dem entgegenwirken und etwa Unternehmens- oder höhere Kapitaleinkommen heranziehen, soll auch nur ansatzweise von einer gerechten Lastenverteilung die Rede sein. Das ist aber das Gegenteil einer Reformstrategie, die aus falsch analysierten Wettbewerbsgründen und zweifelhaften Gerechtigkeitsgründen die Verteilungsrelationen in Richtung Selbstfinanzierung der Lohnabhängigen verschieben will und deshalb das Paritätskriterium diskreditiert.

2. Ent-Marktlichung und Förderung von Selbsthilfepotenziale

Auch in der Frage der Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft bzw. dem Sozialstaat weist eine solidarische Reformstrategie in eine andere Richtung als der aktivierende Sozialstaat. Heute dringt der Markt in immer weitere Bereiche der Arbeitswelt und der Gesellschaft vor und erweitert dort die Autonomiespielräume der Menschen nicht, sondern schränkt sie ein. Gerade deshalb muss Sozialpolitik, die auf die Steigerung von Autonomie und Souveränität des Einzelnen zielt, seine Abhängigkeit vom Markt reduzieren und nicht erhöhen. Das Gegenkonzept zur „Aktivierung über die Mobilisierung von Marktdruck“, also über Leistungskürzungen und verschärfte Zumutbarkeitsregelungen, ist die Förderung kollektiver Selbsthilfe auf sozial gesicherter Basis. Wenn chronisch kranken oder pflegebedürftigen Menschen tatsächlich Hilfe zur gemeinsamen Selbsthilfe gewährt wird, dann kann dies effektiver und humaner sein, als mit medizinischen oder Geldleistungen aus der Kranken. oder Pflegeversicherung „abgespeist“ zu werden. Nicht selten ist das Leben in einer Selbsthilfe-WG mit mehr Lebensqualität verbunden als die „Aufbewahrung“ in einem (auch noch so gut durch organisierten) Pflegeheim.

Dies bedeutet keineswegs, auf die Förderung von Eigenverantwortung zu verzichten. Im Gegenteil: Zivilgesellschaftliches Engagement kann staatliche Aufgaben übernehmen und zugleich die Lebensqualität sozialer Leistungsbezieher erhöhen. Die Wohlfahrtsgesellschaft kann den Wohlfahrtsstaat durchaus entlasten. Doch eine solche Strategie zur Entlastung des Sozialstaats ist nicht über Leistungskürzungen, administrative Repressionen und den Entzug staatlicher Mittel anzuschieben. Die Drohung mit sozialer Unterversorgung und staatlichem Druck bringt soziale Existenzängste, aber nicht Selbstbewusstsein und Selbstbehauptungsfähigkeit in der Marktgesellschaft hervor. „Angst essen Seele auf‘ (R. W. Fassbinder) —emanzipierte Lebensweisen und eine innovative und solidarische Gesellschaft entstehen so nicht.

IV. Die „historische Ehe“ zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften steht auf dem Prüfstand

So, wie der unterschwellige Strategiekonflikt zur Zeit ausgetragen wird, schwächt er den DGB und seine Gewerkschaften auf Dauer. Vor allem, weil er das Vertrauenskapital der gewerkschaftlichen Führung in der Mitgliedschaft verspielt. Oder kommunikationstheoretisch formuliert: Die unterschiedlichen Signale, die die intransparente Kontroverse zwischen den Gewerkschaftsvorsitzenden an die Mitgliedschaft aussendet, kann vom Empfänger nicht entschlüsselt werden. Sie fördert eher Verwirrung und Misstrauen als Überzeugung und Aktivitätsbereitschaft. Zugleich spricht vieles dafür, dass die Neue Sozialdemokratie auf dem Weg des wettbewerbsorientierten Um. und Rückbau des Sozialstaates weiter gehen wird. Gerhard Schröder hat unmissverständlich darauf hingewiesen, dass die Agenda 2010 erst der Beginn eines lang andauernden Prozesses ist, von dem er sich durch die diversen Lobby-Verbände, zu denen die Neue Sozialdemokratie auch die Gewerkschaften zählt, nicht abbringen lassen wird. Das sollten wir ernst nehmen.

Dieser Konflikt zwischen der strategischen Positionierung der Neuen Sozialdemokratie und der Interessenlage der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder dürfte der gegenwärtigen Zerrüttung des Verhältnisses eine gewisse Dauer verleihen. Das müssen die Gewerkschaften zur Kenntnis nehmen! Es wäre verantwortungslos, die gegenwärtigen Spannungen für ein Missverständnis oder eine beiläufige, vorübergehende Erscheinung zu (v)erklären und sich in den bequemen Gewissheiten gemeinsamer Traditionen in Sicherheit zu wiegen. Auch hier müssen wir die neue Realität zur Kenntnis nehmen. Auf absehbare Zeit werden die Gewerkschaften über die sozialdemokratische Parlamentsmehrheiten im politischen Raum nicht viel von ihren Konzepten umsetzen können! Und damit stehen wir vor einem großen Problem. Denn natürlich brauchen wir in den politischen Arenen durchsetzungsfähige Akteure, die unsere Mobilisierungsimpulse aufnehmen und in politische Entscheidungen, Gesetze usw. umsetzen.

Zwei Szenarien sind denkbar, um diesen Zustand der Zerrüttung zwischen SPD und Gewerkschaften zu beenden:

Szenario A: Beide „Ehepartner“ überwinden die Beziehungskrise, wagen noch mal einen neuen Anfang, einen zweiten Versuch und untermauern diesen mit kleinen gegenseitigen Geschenken. Doch ein klarer Blick auf die meisten Beziehungskisten zeigt: Erfolge sind den „zweiten Versuchen“ zumeist nur dann beschieden, wenn Beide sich einen neuen gemeinsamen Lebensentwurf erarbeiten und ihn gemeinsam leben. Angesichts der beschriebenen Problem. und Konfliktkonstellation ist die Wahrscheinlichkeit, dass dies zwischen SPD und DGB-Gewerkschaften auf absehbare Zeit gelingt, nicht sehr hoch einzuschätzen. Gründe genug also, die Situation zu durchdenken, die dann entstünde.

Szenario B: Der Kanzler macht ernst mit der Fortsetzung der Agenda 2010-Politik und hält die Sozialdemokratie auf dem „Dritten Weg“-Kurs. Er setzt das Konzept der aktivierenden Sozialstaatspolitik sukzessive um. Dass dies eine wahrscheinliche Variante ist, hat nicht zuletzt die Belobigung und der Schulterschluss von Gerhard Schröder mit Tony Blair anlässlich des 140. Geburtstages der Sozialdemokratie gezeigt hat. Damit würde der gegenwärtigen Zerrüttung eine Phase dauerhafter Distanz folgen. Denn für die Gewerkschaften, insbesondere für die IG Metall, ist ein Einschwenken auf den Weg des wettbewerbsorientierten Um- und Rückbaus des Sozialstaates auf Dauer nicht durchhaltbar.

Diese Konstellation ist weder für die Sozialdemokratie noch für die Gewerkschaften ohne Probleme. Der Sozialdemokratie kommt eine gesellschaftlich bedeutende Institution abhanden, die in Krisensituationen stets bereit war, als politischer Werbeträger und Akzeptanzbeschaffer für sozialdemokratische Spitzenkandidaten und Politikprojekte zu wirken Ob die Sozialdemokratie ohne diese Unterstützung politisch wird überleben können, ist keineswegs ausgemacht. Es ist nicht auszuschließen, dass sich die Spin-Doctors im Kanzleramt durch ihre habituelle Distanz zu den Gewerkschaften zu einer hoch riskanten Strategie haben hinreißen lassen, deren politische Kosten heute noch gar nicht absehbar sind.

Aber auch für die Gewerkschaften entsteht eine schwierige Konstellation. Da in den Arenen der politischen Entscheidung keine linke Kraft mehr vorhanden ist und die Grünen längst mit der FDP um die Vorherrschaft im Bereich des Wirtschaftsliberalismus kämpfen, käme den Gewerkschaften mit der Scheidung von der SPD endgültig der politische Arm abhanden. Mit anderen Worten: Selbst wenn die gesellschaftliche Mobilisierung gelingt, fragt sich, wer die gesellschaftlichen Protest- und Gestaltungsimpulse im politischen Bereich aufnimmt und in Politik und Gesetze umsetzt. Was also tun?

V. Neue Wege wagen: Gewerkschaftliche Autonomie neu buchstabieren!

Von der aus dem privaten Beziehungsturbulenzen bekannten Angst vor dem Single-Dasein sollten sich die Gewerkschaften nicht einschüchtern lassen. Auch dem politischen Single bieten sich nicht nur neue Probleme, sondern auch neue Chancen. Meine These lautet: Die Gewerkschaften können und wollen auf die SPD als Bündnisakteur nicht gänzlich und dauerhaft verzichten; doch solange die SPD den falschen Dritten Weg nicht verlassen will, müssen die Gewerkschaften den „Umweg über die Aktivierung der Zivilgesellschaft“ gehen. Das bedeutet: Was zuvor über den direkten Weg, also die selbstverständlichen Arbeitskontakte, persönliche Bekanntschaften oder gar politische Personalunionen, über gemeinsame Traditionen, Werte und sozialkulturelle Deutungsmuster vermittelt werden konnte, muss in einer Phase gewachsener Distanz zwischen Gewerkschaften und SPD über den Kampf für andere gesellschaftliche Mehrheiten versucht werden. Wo der „kurze Weg“ Erfolg verspricht, muss er selbstredend intensiv genutzt werden. Aber das wird immer seltener der Fall sein; und daher müssen die Gewerkschaften mit eigenen, überzeugenden Alternativkonzepten, aber natürlich auch mit sozialer Mobilisierungskraft um Anerkennung und Mehrheiten in der Gesellschaft streiten. Es geht um den Kampf um gesellschaftliche Mehrheiten für eine andere Politik, aus der in funktionierenden Demokratien politischen Mehrheiten werden (können). Denn die legitimationsabhängigen Parteien können, bei Strafe ihres politischen Untergangs, auf Dauer nicht gegen gesellschaftliche Mehrheiten regieren —und das ist gut so.

1.Der Ausbau gewerkschaftlicher Kompetenzen

Eine solche Orientierung erfordert von den Gewerkschaften neue und umfassende Kompetenzen, die zusammenkommen und einander ergänzen müssen.

Mobilisierungs -Kompetenz

Bisher war ein ausgewogenes Verhältnis von Konfliktfähigkeit und Kompromissbereitschaft, von Mobilisierung und Verhandlung, von Widerstandsfähigkeit und Reformfähigkeit identitätsstiftend für IG Metall. Zukünftig wird die Mobilisierung gesellschaftlichen Protestes und Widerstandes in politischen Konfliktsituationen an Bedeutung gewinnen. Dabei geht es nicht zuletzt darum, durch diesen Widerstand die politischen Konfliktkosten der aktuellen Politik des wettbewerbsorientierten Umbaus des Sozialstaates zu erhöhen, um damit alternative, solidarische Reformstrategien attraktiver zu machen.

Dass diese Mobilisierungsfähigkeit vor allem auf einer möglichst breiten Verankerung in den Betrieben und in den unterschiedlichen Lohnabhängigengruppen beruhen muss; dass sie die erfolgreiche Wahrnehmung der Kernaufgabe der IG Metall, die tarifpolitische Interessenvertretung der Mitglieder voraussetzt, steht außer Frage. Sollten die Gewerkschaften die Lücke zwischen dem sozialen Profil ihrer Mitgliedschaft und der gesellschaftlichen Sozialstruktur nicht schließen können, sollte ihnen die organisationspolitische Verankerung in neuen Sektoren der dienstleistungsgeprägten Erwerbsarbeit nicht gelingen und sollten sie schließlich keinen adäquaten interessenpolitischen Zugang zu den unterschiedlichen Lohnabhängigenmilieus finden, wird sich die Frage der Mobilisierung gesellschaftlicher Reformkraft gar nicht mehr stellen. Denn natürlich kann diese kein Ersatz, sondern nur (allerdings notwendige) Ergänzung zur betrieblichen und tarifpolitischen Verankerung sein. Aber es geht nicht nur um Mobilisierungs-Kompetenz.

Konzept-Kompetenz

Die sozialpolitische Mobilisierung gegen den wettbewerbsorientierten Um- und Rückbau des Sozialstaates schließt immer zwei Komponenten ein: Die Mobilisierung gegen die Durchsetzung falscher und die Mobilisierung für die Durchsetzung richtiger Konzepte. Die Entgegensetzung von Gegenmacht und Reformkraft ist von der Sache her unsinnig und taugt nicht einmal für tagesaktuelle Leitartikel. Gestaltungskraft muss auf Gegenmachtfähigkeit beruhen und ohne Gestaltungskraft läuft Gegenmachtfähigkeit in Leere. Daraus folgt: für die Gewerkschaften ist nicht nur die politische, sondern gleichermaßen die konzeptionellstrategische Mobilisierung von zentraler Bedeutung.

Dieser Ausbau der Konzept-Kompetenz dürfte den Gewerkschaften gegenwärtig durchaus schwer fallen. Nicht in der Rhetorik, wohl aber in der Praxis. Doch es hilft nichts: Auch wenn die Ressourcen vielfach durch die aktuellen Abwehrkämpfe und Aktivitäten im gewerkschaftlichen Kerngeschäft gebunden sind, müssen die Gewerkschaften stärker als bisher zu „politisch-strategischen Investitionen“ bereit sein. Stärker als heute sind finanzielle, personelle und intellektuelle Ressourcen für die Entwicklung strategischer Zukunftskonzepte bereitzustellen. Es geht um die kontinuierliche Beobachtung der Zeitgeschichte, um die dauerhafte und systematische Suche nach neuen Entwicklungen, bevor sie unmittelbar relevant für die Gewerkschaften geworden sind. Es geht gewissermaßen um gesellschaftskritische Grundlagenarbeit.

Hier stellen sich eine Reihe von Fragen. Welcher Stellenwert politischen „Think Tanks“ bei der Erringung gesellschaftlicher Hegemonie zukommen kann, lässt sich aus der erfolgreichen „Revolution“ der Neo-Konservativen in den USA lernen. Was hieße das etwa für die wissenschaftlichen Einrichtungen der Gewerkschaften, also das WSI, die Hans-Böckler-Stiftung, die Otto-Brenner-Stiftung. Wie können sie intensiver als bisher in diesen Such-, Diskussions- und Konzeptionierungsprozess eingebunden werden, ohne selbstredend das unverzichtbare Mindestmaß an wissenschaftlicher Autonomie infrage zu stellen?

Zugleich stellen sich neue Anforderungen an die zu entwickelnden Konzepte. Bisher waren wir bei der Entwicklung unserer Konzepte stets darauf bedacht, eine zu große Entfernung von dem zu vermeiden, was man für durchsetzbar hielt. Zugleich sollte die Anschlussfähigkeit insbesondere an sozialdemokratische Positionen nicht verloren gehen. Ein solcher Schuss Pragmatismus wird auch in Zukunft notwendig sein, sollen gewerkschaftliche Reformvorstellungen nicht in abstrakte Utopien abgleiten. Aber etwas mehr „realutopischen Überschuss“ könnten sie schon brauchen. Wenn Reformkompetenz und politische Ausstrahlungskraft in die Zivilgesellschaft gefragt sind, sind nicht Pragmatismus und Anschlussfähigkeit an sozialdemokratische Positionen (zumal, wenn diese auf „dritte Irrwege“ geraten sind), sondern gewerkschaftliche Authentizität und politische Bündnisfähigkeit die entscheidenden Prüfkriterien. Die Gewerkschaften müssen auch wieder den Mut zurückgewinnen, Forderungen und Konzepte in die politischen Aushandlungsprozesse einzubringen, hinter denen sich nicht sofort Befürworter versammeln und die gleichwohl „von der Sache her“ unverzichtbar sind. Das bedeutet keinen Abschied von einer realitätsbezogenen Gestaltungspolitik, wohl aber eine Neubewertung von „Strategien mit mittlerer Reichweite“.

Diskurs- und Netzwerk-Kompetenz

Alles das wird zukünftig immer schwieriger im Alleingang zu bewältigen sein. Die Entwicklung von Mobilisierungs- wie von Konzeptkompetenzen muss verstärkt in Diskussionen und kontinuierlichen Arbeitsbeziehungen mit anderen gesellschaftlichen Akteuren, Organisationen und Institutionen geschehen. Die neuere Politikwissenschaft weist seit geraumer Zeit darauf hin, dass in ausdifferenzierten Gesellschaften auch dem Staat der Regierungsstil autoritär-hierarchischer Anweisungen kaum mehr zur Verfügung steht. Auch er muss sich als „verhandelnder Staat“ um Kontakte zu den relevanten gesellschaftlichen Akteuren bemühen. Dies geschieht in so genannten „politischen Verhandlungssystemen“ und „Politik-Netzwerken“ zwischen staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren, zu denen auch die Gewerkschaften gehören. Doch dies bietet auch für die Gewerkschaften mehr Chancen, als diese bisher zu nutzen fähig waren.

2. Die wachsende Bedeutung strategischer Allianzen

Dies verweist auf die wachsende Bedeutung strategischer Allianzen zur Durchsetzung organisationspolitischer Interessen. Um die gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit über eine erhöhte Mobilisierungs- ‚ Konzept- und Netzwerk-Kompetenz zu stärken, ist ein systematischer Ausbau der Kontakte zu anderen gesellschaftlichen und politischen Akteuren notwendig. Dabei geht es zum einen natürlich auch um „Mobilisierungs-Allianzen“ zur Verbesserung von Durchsetzungsmacht in zugespitzten Konfliktsituationen. Wenn auch zumeist sporadisch verfügen die Gewerkschaften durchaus über solche Erfahrungen mit Kirchen, Wohlfahrtsverbänden oder Nichtregierungsorganisationen. Hinzu kommen könnten zukünftig aber vor allem in den sozialpolitischen Feldern auch Akteure wie gesetzlichen Krankenversicherungen oder die Rentenversicherungsträger. Auch wenn diese durch ihre paritätisch besetzten Selbstverwaltungsgremien gegenüber dezidierten politischen Positionierungen gewisse Reserven haben, verfügen sie durchaus über gesonderte organisatorische Eigeninteressen, die sich zumindest punktuell in Strategien einer solidarischen Sozialstaatsreform integrieren lassen.

Auch dies erfordert einige Veränderungen auf Seiten der Gewerkschaften. So müsste von der heutigen Praxis abgewichen werden, politische Positionen im Alleingang zu entwickeln, um diese dann anderen als unveränderbare Plattform für ein gemeinsames Handeln anzubieten, ohne sie wirklich offen zur Debatte zu stellen. Wer möglichst früh auf gemeinsames politisches Handeln orientiert, der muss auch möglichst früh die Ziele dieses Handeln gemeinsam definieren und nicht nur Mobilisierungs-, sondern auch Konzeptallianzen miteinander eingehen. Dies sollte keineswegs als Einschränkung empfunden werden. Heute sind die Fragen einer solidarischen Weiterentwicklung des Sozialstaates in der Regel ohnehin so kompliziert, dass kein einzelner Akteur alleine hinreichende Lösungsvorschläge parat haben kann. Inhaltliche Kooperation kann von wechselseitigem Nutzen sein.

3. Mehr Flexibilität durch einen neuen Bündnis-Pragmatismus

Wenn die Sozialdemokratie als quasi natürlicher Lebenspartner nicht mehr zur Verfügung steht, müssen die Gewerkschaften immer wieder aufs Neue und an den jeweiligen Konfliktgegenständen orientiert nach Partnern Ausschau halten. Das historische Dauerbündnis mit der Sozialdemokratie dürfte durch „Von Fall zu Fall“- Bündnisse mit unterschiedlichen Akteuren ersetzt werden. Wenn notwendig und möglich sollten die Gewerkschaften auch nicht zögern, auf Sachkoalitionen mit anderen parlamentarischen Kräften hinzuarbeiten. Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, dass die wettbewerbspolitische Radikalisierung der CDU/CSU zu internen Konflikten führt und der „Flügel der Sozialdemokraten in der Union“ (von Norbert Blüm bis Horst Seehofer), der heute nahezu bedeutungslos ist, als Proteststimme an Bedeutung gewinnt. Auch im Bereich der ehemals linken, grünen Bewegung existieren noch Akteure, die sich in der Juniorpartnerrolle beim wettbewerbsorjentierten Rückbau des Sozialstaates nicht wohl fühlen. Und schließlich ist nicht ausgeschlossen, dass eine linke politische Kraft wieder in parlamentarische Funktionen zurückkehrt. Die Gewerkschaften sollten sich also durch eine Strategie eines neuen „Bündnis Pragmatismus“ Zweckbündnisse mit allen Kräften offen halten.

4. Der überfällige Aufbruch auf eine Entdeckungsreise nach Europa

Bleibe Europa. Zwar ist nach wie vor die nationalstaatliche Ebene die zentrale Ebene politischer Entscheidungen. Aber zweifelsohne gewinnt die europäische Ebene an Bedeutung. Die Gewerkschaften sollten nicht nur ihre Organisationsstrukturen weiter europäisieren, sondern auch systematisch ausleuchten, wie sie in den Arenen der europäischen Politik Fuß fassen können. Mitunter könnte es möglich sein, Bündnispartner, die auf nationalstaatlicher Ebene verloren gegangen sind, auf europäischer neu zu entdecken. Jedenfalls ist bisher gänzlich unversucht geblieben, im europäischen Parlament neue Bündnispartner für gewerkschaftliche Politik zu finden. Gleiches gilt für die Europäische Kommission. Natürlich werden auch diese Bemühungen immer wieder mit der Hauptstoßrichtung des europäischen Integrationsprozesses kollidieren, der eindeutig in Richtung einer wettbewerbspolitischen Restrukturierung Europas mit deutlichen angebotspolitischen und monetaristischen Elementen weist. Aber es gibt durchaus positive Gegenimpulse. So konnten etwa im betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes über den Umweg der europäischen Richtlinien-Politik wichtige Impulse für innovative Veränderungen im deutschen Arbeitsschutzrecht durchgesetzt werden, die in den nationalstaatlichen Arenen nicht durchsetzbar waren. Ob wir es wollen oder nicht: der Druck, der aus dem Euro-Finanzregime und den neuen Maßnahmen der „offenen Koordinierung“ der Sozialpolitiken auf die Gewerkschaften und nationalen Sozialstaaten ausgeht, erfordert ohnehin erhebliche finanzielle, personelle und konzeptionelle Investitionen in die Europäisierung der gewerkschaftlichen Politik.

All diese Aufgaben und Anforderungen scheinen übermächtig in einer Zeit, in denen die
Gewerkschaften strategisch mit dem Rücken an der Wand stehen. Doch auch für die
Gewerkschaften gilt, was wir für Betriebe immer wieder postulieren: Gerade in strukturellen Krisenzeiten entscheidet nicht zuletzt die Bereitschaft, trotz aller Sparzwänge Ressourcen für strategische Zukunftsaufgaben bereit zu stellen, über das Überleben.

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