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„Wir müssen Druck ausüben“

„Wir müssen Druck ausüben“
Erlebnisbericht von der Fachtagung „Atypische Beschäftigung und Prekarität im europäischen Vergleich“ der Hans-Böckler-Stiftung, DGB-Vorstand u. Fr.-Ebert-Stiftung in Berlin am 19. und 20. Juni 2008
Susanne Hornig

Druck müsse auf die Politiker ausgeübt werden, sagt DGB-Bundesvorstand Annelie Buntenbach, und es bestehe in den nächsten Jahren einiger Handlungsbedarf, um die prekären Arbeitsverhältnisse und damit einhergehende Verarmung und Altersarmut der betroffenen Arbeitnehmer/innen aufzuhalten.
Mit prekären Arbeitsstellen sind solche mit entsprechend schlechten Bedingungen in Teilzeitarbeit, Minijobs, Leiharbeit, Solo-Selbständigkeit (Ich-AGs) und Arbeit im Niedriglohnsektor gemeint.
Davon gibt es in Deutschland und anderen europäischen Ländern eine alarmierend steigende Zahl.
Das haben uns in den vergangenen zwei Tagen kompetent und ausführlich die geladenen Experten zum Thema „atypische Beschäftigung“ aus den NL, AU, F, UK, Italien und Deutschland erklärt.
Prekär heisst: unsicher, nicht kontinuierlich und mit schwierigen, instabilen Zukunftsaussichten.. Das heisst es auch in Niederländisch, Englisch, auf Italienisch und Französisch. Ein europäisches Problem also. Ein internationales Problem.

Ich habe in der Überschrift bewusst die Formulierung „Erlebnisbericht“ gebraucht, denn meine Zusammenfassung der Fachtagung ist subjektiv und von persönlichen Gefühlen gefärbt,
für rein sachlich inhaltliche Information empfehle ich die im Internet einsehbaren Präsentationen unter www.dgb.de/termine/tagungen/atypische_beschäftigung.

Als der DGB-Vorstand wiederholt von „Druck ausüben“ spricht, spüre ich, wie sich mir der Hals zuschnürt. Der Druck dehnt sich direkt in meiner Gurgel aus. Meine Halsschlagader beginnt zu pochen, ich glaube ich werde rot.
Ich möchte in den Saal voller gutgekleideter und aufmerksam oder in ihre Übersetzungs-Kopfhörer lauschender Zuhörer hineinrufen: „Hier sitze ich, eine Betroffene in prekärer Situation. AlgII-Empfängerin, und habe neulich das Stellenangebot erhalten, in Leiharbeit in einem Call-Center für eine Billig-Airline für Niedrigstlohn zu arbeiten.“ Frau Buntenbach spricht mit sonorer ruhiger Stimme weiter vom Druck und Handlungsbedarf. „Was soll ich also tun?“, möchte ich schreien.
Mache mir stattdessen Notizen, denn es soll gleich noch eine Diskussionsrunde zum Thema geben. Bin fest entschlossen, mich zu melden und in das Mikrofon zu sprechen. Bin auch fest entschlossen, mich von der manisch jovialen Munterkeit der Moderatorin (sie ist freie Mitarbeiterin beim rbb), nicht davon abbringen zu lassen. „Sie können das ja auch ausgoogeln“ wirft sie einem Fragesteller flott vor die Füsse, oder auch „Bitte nur Verständnisfragen, ich hoffe das hat nun auch der letzte von uns verstanden!“
Frau Buntenbach redet immer noch, zum Glück haben wir alle gut gegessen und getrunken, das Büffet war in den letzten zwei Tagen reich gedeckt, von Häppchen über Kuchen und Wein gabs alles, was der Magen begehrt.
Was der Magen begehrt, nicht aber, was Herz und Verstand sich wünschen. Die Lösungsvorschläge unserer deutschen Gewerkschaftsvertreter klangen nicht sehr überzeugend.
Dabei haben es die Experten doch vorgetragen: In England ist ein Mindestlohn schon 1998 durch eine unpolitische Low Pay Commission (bestehend aus Arbeitnehmern und Arbeitgebern sowie Gewerkschaftsmitgliedern) vorgeschlagen und von der Regierung 1999 übernommen worden.
Im skandinavischen Modell gibt es gleiches Bürgerrecht für alle, z.B. eine Volksrente, die aus Steuermitteln finanziert wird.
In 20 von 27 europäischen Ländern gibt es einen Mindestlohn (in Belgien und Frankreich in Höhe von 8-9 Euro pro Stunde, in Österreich gestaffelt nach Qualifikation bis zu 13 €). Natürlich, so betonten Vanselow, Wakefield, Misson u.Co. ist der Mindestlohn nur EIN Instrument von weiteren erforderlichen Massnahmen.

Soziale Absicherung (ausreichende Kranken- und Arbeitslosenversicherung), unbefristete Verträge und genügende Altersvorsorge müssen für ALLE Beschäftigten das Ziel sein. Also die Förderung von (am besten Rückkehr zur) Normalbeschäftigung, so wie sie „früher einmal war“, als es noch verantwortungsvolle und fürsorgliche Arbeitgeber gab, die wussten, dass Arbeitnehmer produktiver und effektiver sind, wenn sie anständig behandelt und bezahlt werden.
Früher, als es noch keine Dumpinglöhne, Billigproduktionen und Standortverlagerungen ins Ausland gab.
Zwang, der auf Arbeitnehmer ausgeübt wird, wie zum Beispiel in Deutschland, die Nötigung, Niedriglöhne und befristete sowie nicht sozial abgesicherte Beschäftigung zu akzeptieren, kann kein Weg sein, wie der englische Experte darlegte.

Gerade in Deutschland ist die Situation besonders schlimm:
mit 22% hat hier der Niedriglohnsektor den grössten Anteil im europäischen Vergleich. In atypischer oder prekärer Beschäftigung befinden sich ca. ein Drittel der deutschen Beschäftigen, davon über die Hälfte Frauen. Besonders schlimm dran sind auch die Mini-Jobber, die keine keine Sozialversicherung oder Altersvorsorge haben.
Immerhin 31 Mio Beschäftigte in der EU arbeiten in solchen geringfügig bezahlten Jobs aber das „deutsche Modell“ ist laut der Fachleute am wenigsten geeignet, die Menschen sozial abzusichern, obwohl Deutschland die besten institutionellen Voraussetzungen hat, die soziale Absicherung zu implementieren.

Natürlich, der Neoliberalismus, die uns einhüllende dunkle Wolke, ist daran schuld.
Ich beschliesse, mich entweder zu betrinken oder als Leiharbeiterin nach Frankreich zu gehen.
Denn in Frankreich sind die (mehr als 650.000) Leiharbeiter/innen mit ihrem Lohn und ihren Arbeitsbedingungen zufrieden, erhalten sie doch gesetzlich vereinbart den gleichen Lohn (und gleiche Behandlung) wie im jeweiligen Betrieb üblich. Unglaublich!
Schliesslich bin ich qualifiziert, habe zwei Ausbildungen, davon eine als Fremdsprachenkorrespondentin.
Aber: Qualifizierung schützt nicht vor atypischer oder prekärer Beschäftigung! Auch das machen uns die Fachleute anhand ihrer Statistiken und Studien deutlich.
Frau Buntenbach fasst es abschliessend in die deutlichen Worte „Qrganisiertes Dumping“.
Schockierend. Aber wie konnte es in Deutschland so weit kommen? Wurden da nicht schon jahrelang beide Augen zugedrückt – auch von den Gewerkschaften?
Oder war der Prozess so schleichend, dass jetzt das böse Erwachen uns wie eine Keule vor den Kopf gehauen hat?
Warum schiessen z.B.weiterhin Callcenter wie Pilze aus dem Boden, warum gibt es so viele Leute, die diese Arbeit zu niedrigen Löhnen machen?
„Weil sie erpressbar und ausbeutbar sind“ erklären uns die europäischen Fachleute.

Aber gehören zu Erpressung und Ausbeutung nicht zwei Parteien? Täter und Opfer?
Wehren sich die Opfer womöglich gar nicht? Oder wollen sich gar nicht wehren?
Sie könnten sich doch zusammenschliessen, z.B. in Selbsthilfegruppen, Vereinen oder Gewerkschaften. Oder haben sie gar das Vertrauen in die Gewerkschaften verloren? So wie sie auch das Vertrauen in die Politik verloren haben?
Nach zwei Tagen – nur durch Schlemmerpausen unterbrochenen – Zuhörens und fleissigen Notizenschreibens glaub ich, dass mir gleich der Schädel platzt.

Jetzt endlich möchte ich mich melden und meinem Ärger Luft machen.
Oder sollte ich nicht lieber dankbar sein, dass sich sogar DGB-Chef Michael Sommer die Zeit genommen hat, uns zu erklären, dass die prekären Arbeitsverhältnisse unter aller Würde sind und dringend verändert werden müssen. Der gute Mann, er ist doch auf unserer Seite! Er weiss doch, worum es geht. Dann wird er doch sicher seinen Worten Taten folgen lassen!

Sicher, sicher, die Problematik ist zu differenziert, als dass es eine einfache und schnelle Lösung geben könnte.
Nach den Ausführungen über die verschiedenen Regelungen zum Mindestlohn in Österreich, der schwierig zu handhabenden Kontrolle von Mindestlöhnen in UK und den begeisterten Solo-Selbständigen in den Niederlanden sehe ich das ein, wirklich. Nicht zu reden von den Migrant/innen, die in ihrer Not dann doch zu Niedriglohnarbeit bereit sind.
Aber gibt es nicht ein Grundrecht auf anständig bezahlte Arbeit zu anständigen Konditionen und der eigenen Qualifikation entsprechend?
Gibt es keine Unternehmer-Ehre, die ihm verbietet, seine Angestellten unsittlich auszunutzen?
Scheinbar nicht, denn sonst hätte ich nicht die Stellenangebote erhalten, zu Niedrigstlohn und unanständigen Bedingungen…

Also muss der Gesetzgeber ran, das heisst, die Politik, d.h. der einzelne Politiker und Mandatsträger. Da er vom Volk gewählt ist, könnte dieses nicht Druck auf ihn ausüben? Oder ist er unter seiner Käseglocke schon viel zu weit entfernt von den real existierenden kaptitalistischen Verhältnissen?

Wenn der Weg über die Gewerkschaften gehen soll, müssten die Gewerkschaftsmitglieder und –gliederinnen ordentlich Druck auf die Entscheidungsträger in den Gewerkschaften ausüben, damit sie handeln!
Mit diesem Gedankengang bin ich endgültig bereit, mich mit einem Wortbeitrag zu Wort zu melden.
Jetzt ist auch die Redezeit des DGB-Bundesvorstands abgelaufen. Ich hole tief Luft.
Und traue meinen Ohren nicht.
Mit munteren Sprüchen bedankt sich die rbb-Moderatorin bei den Vortragenden und der Hans-Böckler-Stiftung (an dieser Stelle auch von mir herzlichen Dank) und weist fröhlich lachend auf den Abschluss-Imbiss hin.

Das kann doch nicht wahr sein. Es ist wahr.

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