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Tacheles fordert die Einführung einer bedarfsorientierten Haushaltsenergiepauschale / Update

In Deutschland wurden im vergangenen Jahr über 7 Millionen Mahnverfahren wegen säumiger Forderungen für Haushaltsenergie eingeleitet. In 344.798 Fällen wurde Stromkunden der Strom-anschluss zumindest vorübergehend gesperrt. Davon betroffen waren rund 200.000 Haushalte von SGB-II-Leistungsbeziehenden (Bundesnetzagentur, Monitoringbericht 2014, S. 149 ff.).  Gegenüber dem Vorjahr erhöhten sich die Mahnungen um über 1 Million. Diese Zahlen belegen dringenden sozialpolitischen Handlungsbedarf. Der Erwerbslosenverein Tacheles e.V. fordert daher im Rahmen der geplanten SGB-II-Änderungen eine Reihe von Korrekturen zur Bekämpfung von Energiearmut.

Im SGB II-/SGB XII-Regelbedarf für eine alleinstehende Person in Höhe von 391 EUR (Stand 2014) ist ein Betrag von 30,37 EUR für Haushaltsenergie enthalten. Der durchschnittliche Strompreis für Privathaushalte lag im Jahr 2014 bei 29,13 Cent/kWh (Wikipedia). Damit konnten alleinstehende SGB II/SGB XII-Beziehende 106,26 kWh Strom im Monat und 1255,08 kWh im Jahr finanzieren.

Laut einer 2014 veröffentlichten Broschüre der Verbraucherzentrale NRW, „Stromsparen – einfach gemacht“ (S. 3, http://www.vz-nrw.de/stromspartipps), beträgt der Stromverbrauch ohne elektrische Warmwasserbereitung für einen Ein-Personen-Haushalt durchschnittlich 1.500 - 2.100 kWh im Jahr. Legt man daraus den Mittelwert zugrunde, ergibt sich ein durchschnittlicher Energiebedarf von 1.800 kWh pro Jahr für einen Ein-Personen-Haushalt (zum gleichen Ergebnis kommt die Energieagentur NRW, „Wo bleibt der Strom?“, 2011).

Um 1.800 kWh für einen Ein-Personen-Haushalt im Jahr zu finanzieren, müssen monatlich 43,70 EUR aufgewendet werden. Im SGB II/SGB XII-Regelbedarf fehlen demnach 13,33 Euro im Monat. Mit dieser Deckungslücke wird das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum von rund 7,5 Mio. SGB II/SGB XII-Beziehenden deutlich unterschritten. Zur Höhe des Regelbedarfes hatte das Bundes-verfassungsgericht im Sommer festgestellt, dass dieser grade noch verfassungskonform sei (BVerfG, 23.07.2014 - 1 BvL 10/12 u.a.; https://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/ls20140723_1bvl001012.html ). Unter anderem hat das BVerfG vorgegeben, der Gesetzgeber müsse zeitnah darauf reagieren,  wenn „sich eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter“ ergebe. Dies müsse bei der „Entwicklung der Preise für Haushaltsstrom berücksichtigt werden“. (ebenda, Rz. 144)



Die genannten Fakten belegen dringenden Handlungsbedarf zur wirksamen Bekämpfung von Energiearmut. Der Verein Tacheles fordert daher die Umsetzung der nachstehenden Punkte im Rahmen der anstehenden Gesetzesänderungen.

1.     Herausnahme der Haushaltsenergie aus den Regelbedarfen
Der Bedarf für Haushaltsenergie wird aus den Regelbedarfen nach dem SGB II/SGB XII herausgenommen und separat erbracht. Gleichzeitig werden die Regelsätze in bisheriger Höhe beibehalten. Die statistisch ermittelten Regelbedarfe hinken in allen Bedarfspositionen den tatsächlichen Ausgaben hinterher, sodass es SGB II-/SGB XII-Beziehenden nicht möglich ist, bestehende Bedarfe in voller Höhe zu befriedigen, geschweige denn Rücklagen für Ersatzbeschaffung zu bilden. (Zu diesem Befund kommt auch das Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum, Positionspapier: Ein menschenwürdiges Leben für alle – das Existenzminimum muss dringend angehoben werden!, www.menschenwuerdiges-existenzminimum.org)
Durch die Herausnahme der Haushaltsenergie aus dem Regelsatz und Beibehaltung der bisherigen Regelsatzhöhe würde zum ersten Mal ein Puffer geschaffen, um die Kluft zwischen statistisch ermittelter und tatsächlicher Bedarfsdeckung zu mindern. Damit wird auch den Maßgaben des BVerfG Rechnung getragen, einen Spielraum zu schaffen, um unter anderem der „Gefahr einer Unterdeckung hinsichtlich der akut existenznotwendigen, aber langlebigen Konsumgütern, die in zeitlichen Abständen von mehreren Jahren angeschafft werden…“ (BVerfG, 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, Rz. 120) entgegen zu wirken.



2.     Einführung einer bedarfsorientierten Haushaltsenergiepauschale zusätzlich zum Regelsatz
Die bedarfsorientierte Haushaltsenergiepauschale ist als Mehrbedarf nach § 21 SGB II bzw. § 30 SGB XII zu gewähren. Sie ist für einen Ein-Personen-Haushalt ausgehend von derzeit 1.800 kWh im Jahr und von dem durchschnittlichen, jährlich aktualisierten Strompreis von zurzeit 29,13 Cent/kWh in Höhe von 43,70 EUR im Monat zu berechnen. Sowohl der mittlere Haushaltsenergieverbrauch als auch der durchschnittliche Strompreis sind jährlich vom Bundesamt für Statistik zu ermitteln und im Folgejahr durch Rechtsverordnung parallel mit den Regelbedarfen für alle Haushaltsgrößen festzusetzen. Nur über eine solche zeitnahe Bemessungsmethode kann den Anforderungen des BVerfG zur Berücksichtigung der Entwicklung der Preise für Haushaltsstrom in ausreichendem Maße gerecht werden. (Vgl. BVerfG v. 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, Rz 144).



3.     Angleichung der Bemessungsmethode des Mehrbedarfs für dezentrale Warmwasserversorgung
Der Mehrbedarf nach § 21 Abs. 7 SGB II bzw. § 30 Abs. 7 SGB XII für dezentrale Warmwasserbereitung ist nach den oben beschriebenen Maßgaben ausgehend von aktuellen Verbrauchserhebungen und durchschnittlichen Energiemengen und -preisen zu ermitteln. So lag der durchschnittliche Bedarf an Haushaltsenergie eines Ein-Personen-Haushalts bei Warmwasserbereitung mit Strom um 1.020 kWh über dem eines entsprechenden Haushalts ohne dezentrale Warmwasserbereitung mit Strom (Energieagentur NRW, „Wo bleibt der Strom?“, 2011). Ausgehend von dieser Menge und dem durchschnittlichen Energiepreis von 29,13 Cent pro kWh ergibt das ein Bedarf für dezentrale Warmwasserbereitung von 297,13 EUR pro Jahr und 24,76 EUR pro Monat. Die Warmwasserpauschale nach § 21 Abs. 7 SGB II/§ 30 Abs. 7 SGB XII betrug 2014 aber nur monatlich 8,99 EUR. Nach dieser Methodik ist mit allen Haushaltsgrößen zu verfahren, um realistische und bedarfsdeckende Energiepauschalen zu ermitteln.



4.     Schaffung von „Energiesicherungsstellen“
Diese sind von den kreisfreien Städten und Landkreisen unabhängig von den Jobcentern und SGB XII-Leistungsträgern einzurichten. Bei einer drohenden Energiesperre ist der Energieversorger verpflichtet, die betroffenen Haushalte der zuständigen Energiesicherungsstelle zu melden. Da deren Aufgabe als öffentliche Einrichtung gesetzlich geregelt ist, bestehen datenschutzrechtlich keine Bedenken.
Die Energiesicherungsstellen haben die von der Versorgungseinstellung bedrohten Haushalte anzuschreiben und ein Hilfeangebot zu formulieren. Hier ist eine spezielle und unverzügliche Beratungs- und Informationspflicht der Energiesicherungsstellen zu normieren.



5.     Entschärfung der Frist bis zur möglichen Energiesperre
Durch Einfügung einer zusätzlichen vierwöchigen „Reaktionsfrist“ nach der ersten Mahnung und Einführung einer gesetzlichen Meldepflicht der Energieversorger an die zuständige „Energiesicherungsstelle“ gewinnen die betroffenen Haushalte zusätzlich Zeit zum Handeln.
Entsprechend der gesetzlichen Meldepflicht durch die Amtsgerichte bei Räumungsklagen (§ 22 Abs. 9 SGB II/§ 36 Abs. 2 SGB XII), soll eine entsprechende Meldung der Energieversorger an die Energiesicherungsstelle bei drohender Energiesperre nach Ablauf der Reaktionsfrist zwingend erfolgen. Erst danach beginnt die bisher geltende vierwöchige Frist, nach deren Ablauf eine Einstellung der Versorgung nach heutiger Rechtslage möglich ist.



6.     Rechtsansprüche zur Übernahme von Energieforderungen im Sozialrecht stärken
Die Übernahme von Haushaltsenergieforderungen nach Erhalt der Jahresabrechnung sowie von Energieschulden ist im SGB II und SGB XII als Rechtsanspruch auszugestalten (derzeit § 24 Abs. 1 SGB II/§ 37 Abs. 1 SGB XII sowie § 22 Abs. 8 SGB II/§ 36 Abs.1 SGB XII). Damit wären SGB-II-/SGB-XII-Leistungsbeziehende und Personen, die keine Leistungen beziehen, gleichermaßen abgesichert.



7.     Einführung einer garantierten Grundenergiemenge
Mittelfristig fordert Tacheles e.V. die Abschaffung von Energiesperren und Gewährleistung der Versorgung jedes Haushalts mit einer Grundenergiemenge, um den existenziellen Bedarf an Haushaltsenergie sicher zu stellen.



Die ausreichende Versorgung mit Strom ist eine Grundvoraussetzung zur Sicherung eines menschen-würdigen Daseins. Nur durch die gesicherte Energieversorgung wird die Teilhabe der Menschen mit niedrigen Einkommen und Bezieher/innen von Leistungen zum Lebensunterhalt am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Unterstützungsangebote beim Energiesparen sind lobenswert aber wenig effizient und sie beseitigen nicht die systematische Unterdeckung aufgrund zu niedriger Bedarfsanteile in den Regelsätzen für Haushaltsenergie sowie für die Anschaffung energieeffizienter Geräte.

Das Recht der Europäischen Union fordert: „Die Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden und tragen insbesondere dafür Sorge, dass für schutzbedürftige Kunden ein angemessener Schutz besteht, einschließlich Maßnahmen zur Vermeidung eines Ausschlusses von der Versorgung.“ (Richtlinie 2003/54/EG, Art. 3, Abs. 5). Diese Schutznorm ist von der Bundesregierung zwingend und zeitnah umzusetzen.

Wuppertal, den 25.12.2014

Frank Jäger & Harald Thomé

Erwerbslosenverein Tacheles e.V.

 
Tacheles-Strompapier Version II. vom 25.12.201 zum Download 
Tacheles-Strompapier Version I. vom 10.12.201 zum Download 

Tacheles PM 10.12.2014 zur Stromforderung

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