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Sparen bei den Armen: Leistung lohnt bald nicht mehr

Keine Kürzung der Freibeträge vom Erwerbseinkommen bei arbeitenden Sozialhilfebeziehern!



Das Bundesverwaltungsgericht hat mit seiner äußerst umstrittenen Entscheidung vom 21.12.01 (Link zum BVerwG-Urteil) die „Kölner Freibetragsregelung” unterstützt und die Entscheidung des Oberverwaltungsgericht NRW aufgehoben mit der die jahrzehntelang überwiegend allseits akzeptierte Regelung entsprechend der Empfehlungen des Deutschein Vereins im Kölner Fall für null und nichtig erklärt.

Der Entscheidungstenor des Bundesverwaltungsgerichtes ist, ein gesonderter finanzieller Anreiz für Erwerbstätige sei nicht notwendig, die Aussicht auf Kürzung und Versagung der Sozialhilfe stelle einen ausreichenden Anreiz zur Erwerbstätigkeit dar.

Unmut und Spannungen zwischen den Betroffenen und den Behörden werden damit bewusst in Kauf genommen. Eine Verschärfung des sozialen Klimas verursacht.

Die Gunst der Stunde nutzend haben diverse Sozialämter schon Kürzungen der Erwerbstätigenfreibeträge vorgenommen oder beabsichtigen dies zum 01. Januar 2003.

Wie eine von Tacheles durchgeführte Umfrage ergeben hat, gibt es in NRW verschiedenste Modelle, so das „Kölner- und Oberhausener Modell”, sowie die Ämter die sich an die Empfehlungen vom Landschaftsverband halten.

Erfreulichweise gibt es aber auch einige Sozialhilfeträger, die sich dem allgemeinen Mainstream zum Kürzen nicht anschließen wollen. Sie sind der Auffassung, dass den Sozialhilfebeziehern zum Arbeiten ein entsprechender finanzieller Anreiz gegeben werden muss und halten sich an die Empfehlungen des Deutschen Vereins.

Arbeit muss sich lohnen, auch für erwerbstätige Sozialhilfeempfänger.

Dies haben CDU und FDP im Jahre 1997 noch im Bundestag beantragt, mit dem Ziel den Freibetrag zu erhöhen, damit sich die Arbeitsaufnahme lohne. Etwas, das auch Jugendlichen vermittelt werden sollte. Wenn aber vom morgendlichen Zeitungen austragen in den Ferien kaum noch was übrig bleibt, kann man das Motto von der lohnenden Arbeit nur noch sehr schwer vermitteln.

Ebenso schwer dürfte es für die erwerbstätigen Sozialhilfebezieher vermittelbar sein. Besonders für die vollerwerbstätigen  Großfamilien, die kein ausreichendes Einkommen haben um den Bedarf einer Großfamilie zu decken und nun plötzlich aus dem „Genuss” von ergänzender Sozialhilfe, einmaligen Leistungen, der Befreiung von Rundfunk- und Fernsehgebühren, Telefonermäßigung und Sozialpässen rausfallen werden.

Alles aber keine Argumente für die Stadt Wuppertal. Hier ist trotz unserer massiven Einwände geplant, die Erwerbstätigenfreibeträge zum 01. Januar 2003 drastisch zu kürzen. In Wuppertal findet allerdings noch eine durch uns initiierte Diskussion darüber statt. Tacheles e.V. hat auch der Verwaltung und den Ratsfraktionen ein Positionspapier mit eigenen Vorschlägen zu Änderungen bei den Erwerbstätigenfreibeträgen vorgelegt. In den allermeisten Städten allerdings, wurden und werden die Erwerbstätigenfreibeträge ohne vorherige politische Diskussion und ohne Anhörung von sozialerfahrenen Personen und deren Interessenvertretungen gekürzt.

Die Freibetragsregelungen im Vergleich.

Die Position von Tacheles e.V.



Wir wollen in dieser Diskussion deutlich machen, warum die Erwerbstätigenfreibeträge in vielen Fällen zwingend nötig sind und beziehen uns dabei zunächst auf unsere eigene Beratungspraxis:

Genau 64 % der Personen, die zu Tacheles e.V. in die Sozialhilfe- und Existenz-sicherungsberatung  kommen, sind hoch verschuldet. Das bedeutet in der Folge Mahnbescheide, Energiekostenrückstände, Telekomschulden, Ratenzahlungen bei Versandhäusern und Kredithaien, sowie Konto- und Gehaltspfändungen. Mit einer restriktiven Änderung der Freibeträge ist es diesen Betroffenen kaum noch möglich, ihre Schulden jemals zu tilgen.

Somit beginnt der bekannte Kreislauf, der uns aus unserer Beratungspraxis leider nur allzu bekannt ist.:

  • Durch Rückstände bei der Telekom - kein normaler Telefonanschluss.
  • Wegen Schufaeintrag kein Mobiltelefonvertrag, am Ende bleibt nur das super teure Prepaidhandy mit Minutenpreisen von fast 1 €.
  • Mahnbescheide haben bei Nicht-Kümmern Kontopfändungen zur Folge, dies wiederum eine Kündigung des Kontos. 14,6 % unseres ratsuchenden Klientels verfügen noch nicht einmal über ein eigenes Konto.
  • Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse beim Arbeitgeber werden bei diesen in der Regel nicht gerne gesehen und führen bei passender Gelegenheit zu Kündigungen.
  • Durch Schulden bei dem Energieversorger ist der Strom abgestellt und dadurch funktioniert oftmals auch keine Heizung mehr. Folge ist fehlende Körperhygiene und keine Möglichkeit mehr zur Teilnahme am soziokulturellen Existenzminimum. Daraus resultiert null Motivation überhaupt noch was zu machen.


Und wenn man an diesem Punkt angelangt ist, dann folgt noch die kaltschnäuzige Antwort des Sozialamtes: „wir übernehmen bei alleinstehenden Personen keine Energierückstände” und für die „wäre es zumutbar, mal eine Zeitlang ohne Strom zu leben”, so auch z.B. das Verwaltungsgericht Düsseldorf in aktuellen Beschlüssen.

Leider alltägliche Realität eines Großteils von Sozialhilfehilfeempfängern. Diese Notlage kann „nur” mit Sozialhilfe nicht überwunden werden.

Bisher konnten diese Betroffenen, und wir verweisen darauf, das sind 64 % der von uns Beratenen, durch Arbeit zumindest in gewissen Rahmen die Probleme durch Ratenzahlungen schmälern. Durch die drastischen Änderungen in den Freibetragsregelungen(bitte Link zu der Erwerbstätigenfreibeträge) wird das in Zukunft kaum noch möglich sein.

Aus diesem Grund prognostiziert Tacheles den Sozialämtern, dass sie durch Veränderungen der Freibeträge zwar kurzfristig mehr Gelder sparen können. Mittelfristig aber werden die Ausgaben erheblich steigen, da die Verschuldungskreisläufe mit den oben angeführten Folgen zunehmen werden. Ebenso werden als Folge die Suchterkrankungen steigen. Für arbeitende Sozialhilfeempfänger besteht dann die Gefahr, ihren Job zu verlieren. Oder sie werfen diesen hin, weil sie letztendlich in der Arbeit keinen Sinn mehr sehen werden, weil für sie kaum noch was rauskommt.

Die Höhe der Freibeträge, also inwieweit es sich lohnt zu arbeiten, ist bei uns in der Beratung alltägliche Frage. Viele Ratsuchende stellen dann fest, dass es für sie rechnerisch günstiger ist auf 150 € Basis zu arbeiten, als auf 300 €, da Aufwand und Nutzen in Form dessen was sie am Ende an Geld behalten dürfen (anrechnungsfrei bleibt) in keiner Relation steht.

Tacheles prognostiziert auch daher den Sozialämtern, dass immer weniger Sozialhilfeempfänger bereit sein werden zu arbeiten, wenn es sich nicht lohnt. Verstärkte psychosoziale Verelendung und Alkohol- und Drogenabhängigkeiten, damit verbundene Kriminalität und somit steigende Kosten für die Allgemeinheit werden eine Folge sein.

Zunehmende Schwarzarbeit und damit ungesicherte Tätigkeiten eine andere.

Insgesamt eine nichtakzeptable Verschärfung des sozialen Klimas.

Mit der Kürzung der Erwerbstätigenfreibeträge wird zudem die Verelendung der Niedriglohnbezieher vorangetrieben. Während ihnen offiziell angeblich geholfen werden soll, ihre Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt zu überwinden, werden ihnen in der Praxis trotz Arbeit und vor allem bei Motivation und Arbeitsbereitschaft immer weniger Mittel zu einer menschenwürdigen Lebensführung belassen.

Forderungen von Tacheles



1. Arbeit muss sich auch weiterhin lohnen



Aus diesem Grunde sollten mindestens die bisherigen Erwerbstätigenfreibetrags-regelungen beibehalten werden. Es sollte vielmehr über eine Ausweitung der Freibeträge nachgedacht werden. Die neuen Empfehlungen des Deutschen Vereins vom Dezember 2002 könnten dafür eine Grundlage sein. Soziokulturelle Teilhabe und menschenwürdiges Dasein lässt sich nicht durch reine Repressivnorm realisieren. 

2. Einführung einer Differenzierung zwischen versicherungspflichtiger und versicherungsfreier Tätigkeit



Nach unserer Ansicht sollte genauer differenziert werden zwischen versicherungsfreier und – pflichtiger Arbeit. Versicherungspflichtige Tätigkeit sollte durch eine differenzierte Freibetragsregelung in der Sozialhilfe höher und stärker honoriert werden. Mit dieser

Steuerungsoption können bei richtigem Umgang dauerhafte Schritte aus der Sozialhilfe durch finanziellen Anreiz gefördert werden. Dies entspricht dem eigentlichen Sinn der Sozialhilfe keine rentengleiche Dauerleistung zu sein, sondern „Hilfe zur Selbsthilfe” zu sein und  die „Befähigung unabhängig von ihr leben zu können” tatsächlich herbei zu führen. So der § 1 Abs. 1 BSHG.(Link Juris einfügen)

Mit starren und gar gekürzten Freibetragsregelungen werden nur weitere Generationen von Sozialhilfeempfängern und Betroffenen die in ihrem Elend verharren großgezogen.

3. Der Erwerbstätigenfreibetrag nach § 76 Abs. 2a Zif. 2 BSHG für eingeschränkt Erwerbstätige soll auf weitere Personengruppen ausgeweitet werden



Der Freibetrag für eingeschränkt Erwerbstätige sollte nach unserer Auffassung ausgeweitet werden. So sollten weitere Personengruppen, die besonderen Belastungen und Einschränkungen unterliegen, oder einen entsprechenden stärken Anreiz bedürfen hinzugefügt werden. So etwa:

  1. Alleinerziehende mit einem Kind unter 16 Jahren
  2. Familien ab 3 Kindern
  3. Jugendliche unter 18 Jahre
  4. Langzeitarbeitslose die länger als 3 Jahre arbeitssuchend gemeldet sind
  5. Personen die nachgewiesen suchtkrank sind (Alkohol, Medikamente, Drogen) und trotzdem einer Erwerbstätigkeit nachgehen


Bei den ersten zwei von Tacheles vorgeschlagenen Personengruppen, besteht unserer Meinung nach ein besonderen Bedarf an Förderung der Erwerbstätigkeit, da diese zu der Gruppe der Erwerbstätigen gehören, die einer besonderen Belastungen aufgrund der Kinder unterliegen.

Bei den Jugendlichen, aus einer ansonsten sozialhilfebeziehenden Familie sollte mit einem erhöhten finanziellen Anreiz zur Arbeit der Lerneffekt, das sich Arbeit auch lohnt, gefördert werden.

Bei den Langzeitarbeitslosen und Suchtkranken besteht ohne erhöhten finanziellen Anreiz die Gefahr das diese völlig verschulden und nur noch perspektivlos sind. Ein erhöhter finanzieller Anreiz als Motivation zur Wiedereingliederung erscheint hier ebenfalls geboten.

(Ausführlichere Begründung in den Tacheles Vorschlägen.)

4. Die Bundesregierung sollte die lange überfällige Rechtsverordnung zur Festsetzung der „angemessenen Freibeträge” erlassen



und zuvor eine umfassende und sachgerechte Diskussion mit den entsprechenden Fachgremien wie DV, BAG der Wohlfahrtsverbände, BAG-SHI führen (und am besten auch noch auf diese hören) und sich nicht auf die absolut kontraproduktive Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ausruhen und damit dem Deutschen Verein als maßgebliche „antizipierte Sachverständige” zu repetieren und allen damit eine endlose Diskussion und Klagewege ersparen.

5. Erhöhung des Pauschbetrages für die Nutzung eines Kraftfahrzeuges auf einen angemessenen Betrag



Nach § 3 Abs. 6 Nr. 2 a.) der Vo zu § 76 BSHG ist bei notwendiger Nutzung eines Kraftfahrzeuges ein Pauschbetrag von 5,20 € pro KM Entfernungsstrecke zwischen Wohnung und Arbeitsstätte vom Einkommen abzusetzen. Dieser Betrag ist schon seit langem viel zu gering bemessen.

Mit derart restriktiven Regelungen (zuletzt vom OVG-NRW) unter Zugrundelegung des Spritverbrauches für ein Auto Marke VW- Lupo — den auch jeder Sozialhilfeempfänger fährt) wird kein Anreiz geschaffen einer Arbeit nachzugehen. Der Pauschbetrag sollte daher dringend angemessen erhöht werden.

TACHELES – Online Redaktion


Harald Thome, Regine Blazevic




Weitergehende Infos:



Stellungnahme/Vorschläge von Tacheles zur Höhe der Erwerbstätigenfreibeträge

Der Erwerbstätigen Freibetrag und Beispielsrechnungen

Umfrageergebnisse Freibeträge in NRW

Vorlage der Stadt Wuppertal zur Änderung der Freibeträge

Urteil des OVG NRW vom 20. Juni 2000, für DV Empfehlungen

Urteil des BVerwG vom 21.12.01, kontra DV Empfehlung

Presseerklärung des KALZ zum OVG Urteil

Anmerkungen von Helga Spindler zum BVerwG Urteil aus Info also 4/2002

Schreiben von Tacheles an die Wuppertaler Ratsfraktionenvom 16. Dezember 2002 (MS Word Dokument)

Zweites Schreiben von Tacheles an die Ratsfraktionen vom 17. Dezember 2002 (MS Word Dokument)

Infoblatt der ALSO Oldenburg zur Freibetragsregelungen ab 1. September 2002

Neue Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Freibetragsregelung von 12/2002

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