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Sozialgericht Berlin klagt über rechtswidrige Praktiken der Berliner Jobcenter

Aus dem Schreiben der Berliner Justizverwaltung, (zuerst veröffentlicht unter www.wasg-berlin.de) an die zuständigen Berliner Senatsverwaltungen geht hervor, dass die „außergewöhnliche und dramatisch angestiegene Belastungssituation am Sozialgericht Berlin" auf „organisatorische Defizite und Vollzugsprobleme bei den Job-Centern” zurückzuführen ist. Als Gründe benennen die Richter die schlechte Personalausstattung der Alg II-Behörde, Überlastung des Personals sowie mangelnde Kenntnisse im Sozial- und Verfahrensrecht.

So berichten Berliner Richter darüber, „dass überlastete JobCenter-Bedienstete empfehlen, bei Gericht einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu stellen, weil nur so eine beschleunigte Sachbearbeitung in der Behörde erreicht werden könne. Die Sachbearbeitung beginnt dann praktisch vor Gericht.” Unzureichende Rechtskenntnisse führten häufig zu Nachfragen der Mitarbeiter bei der Richterschaft, „die ihre klar gefassten Beschlüsse im Nachhinein noch erläutern muss, sowie zu weiteren Anträgen der Hilfesuchenden bei Gericht, in denen bemängelt wird, dass das JobCenter die gerichtliche Entscheidung ignoriere.”

Um ein lebendiges Bild von den Zuständen zu zeichnen, listen die Richter konkrete Beispiele auf: Sie beklagen sich unter anderem darüber, dass die Leistungsakten oft nicht vollständig und in irgendeiner Weise geordnet geführt würden und ihre Übersendung an die Gerichte zu lange daure. Bescheide würden bei Bedarfsgemeinschaften an irgendein Mitglied adressiert, Einzelansprüche würden nicht ausgewiesen, erst recht nicht bei Rückforderungen. Pointiert stellten die Richter fest, dass die Arbeit der Jobcenter deutlich besser werde, sobald ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren anhängig ist. Das wüssten aber mittlerweile auch Antragsteller und Anwaltschaft.

Die geschilderten „misslichen” z.T. „rechtlich außerordentlich bedenklichen” Zustände führt die Richterschaft auch darauf zurück, „dass das Personal bei der Errichtung der Job-Center nicht nach Qualifikation eingestellt werden konnte, sondern auf ‚Überhangs’-Personal aus allen Bereichen der Berliner Verwaltung zurückgegriffen werden musste.” Hier wurde unter strengen Sparvorgaben und dem Zeitdruck der vorgegebenen Hartz IV-Umsetzung eine politische Entscheidung getroffen, deren Folgen scheinbar einkalkuliert wurden. Ein riskanter Vollzug der „Jahrhundertreform”, der auch in anderen Teilen der Republik mit Vorliebe praktiziert wurde.

Die in dem Richterschreiben angeführten Missstände sind zwar nicht per se auf alle bundesdeutschen SGB II-Behörden zu übertragen, sie dokumentieren aber eine unhaltbare weil rechtswidrigen Behördenpraxis, die im Leistungssystem der Grundsicherung für Arbeitssuchende weit verbreitet ist. Vielerorts sind Alg II-Ämter personell unterbesetzt, viele Mitarbeiter/-innen sind Sozial- und Verfahrensrecht nur unzureichend geschult und aufgrund hoher Fallzahlen mit ihrer der Arbeit hoffnungslos überfordert. Nicht einmal die grundlegenden behördlichen Leistungen wie Aufklärung, Hilfe bei der Antragstellung und dessen Entgegennahme werden Hilfesuchenden dort gewährt. Transparente und nachvollziehbare Behördenentscheidungen werden schon durch unzureichende Rahmenbedingungen, etwa die ungenügende Software behindert.

Vielfach sorgt auch behördeninterner Druck, beispielsweise durch Weisungen zu rechtswidrigem Handeln, Sparvorgaben, Konkurrenz oder einfach nur die Unsicherheit des Arbeitsplatzes für Unzufriedenheit und Verunsicherung der Mitarbeiter. Gemäß den Gesetzen der Schwerkraft wird dieser Druck natürlich nach „unten” an die Leistungsbezieher/-innen weitergegeben. Mit den Folgen werden wir allzu oft in der Beratung konfrontiert.

Deshalb suchen wir „offizielle Belege des Scheiterns”, die die realen Zustände in den Alg II-Behörden aufdecken und dokumentieren. Die unseren Befund bestätigen und uns Beweise für die öffentliche Auseinandersetzung liefern. Wir wissen aus unserer Praxis: Berlin ist nicht die unrühmliche Ausnahme unter den Alg II-Ämtern. Wer uns ähnliche aussagekräftige offizielle Dokumente wie das hier veröffentlichte Schreiben zuschicken kann, möge das bitte tun. info@tacheles-sozialhilfe.de

Tacheles Onlineredaktion
Frank Jäger



Links


  • Das Schreiben der Berliner Justizverwaltung [PDF 36KB]


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