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Sonderbehandlung von U-25-Jährigen
1. Sonderbehandlung
Die Stellung von U-25-Jährigen im SGB II wirft in Theorie und Praxis zahlreiche Probleme auf. Hier müssen unter anderem die verschärften Sanktionsregelungen nach § 31 Abs. 5 SGB II und die Sofortangebote nach § 15a SGB II genannt werden. Von den Sofortangeboten ist diese Altersgruppe überproportional betroffen, weil hier vor der Alg II-Antragstellung relativ oft keine vorherigen Ansprüche auf SGB II- und SGB III-Leistungen bestanden. Und ich behaupte einmal, dass sich U-25-Jährige durch die entsprechenden Angebote bei der Antragstellung auch häufiger abschrecken lassen, als ältere AntragstellerInnen – einfach weil sie sich über die Tragweite ihres Handelns oft nicht im Klaren sind.
Mit Blick auf diese Personengruppe wird das im SGB II angelegte „Fordern und Fördern” schnell zum „Überfordern und Hinausbefördern”, wie es Helga Spindler schon in Bezug auf die Modellversuche für Jugendliche und junge Erwachsene zu BSHG-Zeiten treffend beschrieb. Die „Job-Börse Junges Köln” und ihr Nachfolgemodell „Job Center Junges Mannheim” standen schließlich Pate für die Sonderbehandlung der U-25-Jährigen im SGB II.
Eine Sanktion auf Null ohne Übernahme der Unterkunftskosten bei der zweiten „Pflichtverletzung” innerhalb eines Jahres – zumal die Möglichkeit der nachrangigen Sicherung des Existenzminimums durch die Sozialhilfe weggefallen ist – halte ich genauso wenig mit dem Sozialstaatsgebot zu vereinbaren, wie die gängige Praxis bei den Sofortangeboten nach dem Motto „zuerst die Gegenleistung, später die Existenzsicherung”. Ob solche Gesetzeshürden mit entsprechend restriktiven behördeninternen Vorgaben die Alg II-Behörden überhaupt noch in die Lage versetzen, bei existenziellen Notlage zu reagieren und schnelle Unterstützung zu leisten, ist zweifelhaft. Aber genau das sollte eine sozialstaatliche Fürsorgeleistung gewährleisten: umgehende Hilfe in Notlagen!
Auf der anderen Seite haben wir es bei den U-25-Jährigen auch mit eine Gruppe zu tun, die von der Sozialberatung nur sehr schlecht erreicht wird (die Schwangerschaftskonfliktberatung mag hier vielleicht eine Sonderstellung einnehmen). Gerade bei Problemen mit den Alg II-Behörden kommen nach meiner Einschätzung Jugendliche und junge Erwachsene nur selten in die Beratung und meist dann, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Das bedeutet für Beraterinnen und Berater, dass die Voraussetzungen eine Problemlage schnell, auf dem einfachsten Weg zu beheben oft nicht mehr gegeben sind. Dabei sind gerade bei Sanktionen die Chancen der Gegenwehr gar nicht schlecht, weil – so zumindest meine Erfahrung – ein Großteil der Bescheide nur unzureichend begründet oder mit Formfehlern behaftet ist.
Die Gefährdung der Existenzsicherung von jungen Erwachsenen im SGB II-Leistungssystem durch sanktionsbewährte „Pflichtverletzungen” ist eine ernsthaftes Problem, vor dessen Hintergrund die Anstrengungen für eine umfassende Aufklärung, Beratung und Unterstützung dieser Zielgruppe verstärkt werden müssen. Freilich müssen neue und sehr arbeitsintensive Wege bestritten werden, um die Betroffenen überhaupt zu erreichen und ihnen angemessene Hilfestellungen anzubieten.1 Das wird vor allem bei der folgenden Umzugsproblematik und der verschärften Unterhaltspflicht deutlich.
2. Nicht nur ein Auszugs- sondern auch Umzugsverbot
Die entsprechende Regelung wurde durch das „Erste Gesetz zur Änderung des SGB II und anderer Gesetze” im Februar 2006 von Bundestag verabschiedet und trat im April 2006 in Kraft. Seit dem gilt die Zusicherungserfordernis des Alg II-Trägers zur Übernahme der Unterkunftskosten nach dem Umzug von U-25-Jährigen. Ziehen diese einfach ohne Genehmigung der Behörde um, werden bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres die Kosten der Unterkunft nicht mehr erstattet und die Regelleistung wird auf 80% des Eckregelsatzes abgesenkt.
Die generelle Kürzung der Regelleistung für junge Erwachsene, die im Haushalt der Eltern oder eines Elternteils wohnen, wurde ab Juli des gleichen Jahres jeweils bei Beginn eines neuen Bewilligungszeitraumes durch Hereinnahme der erwachsenen Kinder in die elterliche Bedarfsgemeinschaft vorgenommen. Mit dieser Maßnahme werden ab Juli 2006 die Eltern gegenüber ihren erwerbslosen erwachsenen unter 25-jährigen Kindern uneingeschränkt unterhaltspflichtig gemacht, wenn sie mit diesen in einem Haushalt leben.
Die verschärften Regelungen für den Umzug gelten nicht für Hilfebedürftige, die am 17.02.2006 (Tag der Verabschiedung im Bundestag) nicht mehr im Haushalt der Eltern wohnten (§ 68 Abs. 2 SGB II). Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber verhindern, dass nach der Verabschiedung des Änderungsgesetzes Betroffene noch schnell ausziehen, um ihre Hilfebedürftigkeit herbeizuführen. Tatsächlich bedeutet die Fristsetzung aber, dass bei allen Umzügen von SGB II-Leistungsberechtigten unter 25 Jahren, die nach dem 17. Februar 2006 aus dem Elternhaus ausgezogen sind – also auch viel später –, geprüft werden kann, ob diese nicht auf die Wohnung der Eltern oder eines Elternteils verwiesen werden können.
Mit dem SGB II-Fortentwicklungsgesetzt wurde die letzte Auszugslücke im Gesetz im August 2006 geschlossen. Hier wurde dem § 22 Abs. 2a ein Satz angefügt, wonach keine Unterkunftskosten zu übernehmen sind, falls die/der Betroffene vor Antragstellung bei den Eltern ausgezogen ist, um die Voraussetzungen zum Leistungsbezug herbeizuführen.2
Was heißt Umzugsverbot?
Der Begründung des ersten SGB II-Änderungsgesetzes ist zu entnehmen, dass die Erfordernis der Zusicherung zum Umzug den Auszug von U-25-Jährigen aus dem elterlichen Haushalt begrenzen sollte, weil der Erstbezug einer eigenen Wohnung hohe Kosten auslösen würde (BT-Drs. 16/688). In der Debatte war von „Auszugswelle” von U-25-Jährigen auf Kosten der Allgemeinheit und sogar von „Zellteilung” die Rede. Diese Aussagen wurden aber nie mit belastbaren Zahlen belegt, sondern waren – wie so oft – gefühlter bzw. vermuteter Sozialmissbrauch, der zur Tatsache stilisiert wurde, um das Gesetz zu verschärfen.
Auf der anderen Seite ist der Gesetzesbegründung nicht zu entnehmen, dass sich das Verbot bzw. die Genehmigungspflicht auf alle Umzüge von U-25-Jährigen beziehen soll, wie es der Wortlaut des § 22 Abs. 2a SGB II eigentlich besagt. Nachdem die Regierung bei der Verabschiedung des Gesetzes zunächst nur auf den Erstauszug aus dem Elternhaus abgestellt hatte, wurde nun im Juli diesen Jahres im Rahmen einer kleinen Anfrage der Fraktion die Linke im Bundstag eine andere Interpretation bekannt: Grundsätzlich gelte die Zusicherungserfordernis für jegliche Umzüge von Personen unter 25 Jahren, wie Staatssekretär Rudolf Anzinger für die Bundesregierung erklärte (BT-Drs. 16/5987).
Diese Interpretation ist für Beraterinnen und Berater an sich nicht neu, denn sie wird von SGB II-Trägern geteilt – und zwar schon seit der Gesetzesänderung im Frühjahr 2006. In der Folge haben junge Erwachsene bundesweit erhebliche Probleme die Zusicherung für den Umzug erteilt zu bekommen, egal ob sie um- oder ausziehen wollen und wie lange sie schon auf eigenen Beinen stehen. Flächendeckend werden Begründungen gefordert, warum Betroffene nicht auf die Wohnung ihrer Eltern verwiesen werden können. Und regelmäßig scheitern diejenigen, die sich durch die Behörde einschüchtern lassen oder sich nicht gegen Behördenentscheidungen wehren und – falls erforderlich – bis vors Sozialgericht ziehen. Denn die Chancen, dass zumindest dort die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers zum Zuge kommt, nämlich nur den Erstauszug einzuschränken, stehen sehr gut (z.B. LSG Thüringen, 06.02.2007, Az.: L7 B 69/06 AS). Auch der Deutsche Verein geht in seinen Empfehlungen zu § 22a SGB II3 davon aus, dass der Erstbezug (d.h. Auszug bei den Eltern) gemeint ist, nicht generell jeder Umzug von jungen erwachsenen Leistungsbeziehenden.
3. Voraussetzungen für die „Genehmigung” des Umzugs
(§ 22 Abs. 2a Satz 2 SGB II)
Der kommunale Träger ist zur Zusicherung [der KdU-Leistungserbringung nach einem Umzug] verpflichtet, wenn
- der Betroffene aus schwerwiegenden sozialen Gründen nicht auf die Wohnung der Eltern oder eines Elternteils verwiesen werden kann,
- der Bezug der Unterkunft zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt erforderlich ist oder
- ein sonstiger, ähnlich schwerwiegender Grund vorliegt.
Eine Zusicherung der Kostenübernahme nach einem Umzug ist nicht erforderlich,
- bei Personen, die vor dem 17. Februar 2006 nicht mehr zum Haushalt der Eltern gehört haben (§ 68 Abs. 2 SGB II) und
- wenn eine Bedarfsgemeinschaft mit mindestens einer Person unter 25 Jahren gemeinsam umzieht (dann gilt die Zusicherung nach § 22 Abs. 2 SGB II).
Die Entscheidung über die Zusicherung des Trägers hat nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfolgen. Die Feststellung, ob ein schwerwiegender sozialer Grund vorliegt, erfordert spezielle Fachkompetenz der beteiligten Mitarbeiter in der Familien- und Jugendhilfe, die bei der Alg II-Behörde in der Regel nicht per se vorausgesetzt werden kann. Deshalb rät der Deutsche Verein in seinen Empfehlungen, die öffentliche Jugendhilfe bei der Entscheidung mit einzubeziehen. Falls erforderlich sollten die betroffenen U-25-Jährigen zuvor zur Einwilligung über die zweckgebundene 4 Verwendung von Daten des Jugendhilfeträgers aufgefordert werden (fraglich ist nur, ob entsprechende „Fälle” dort bereits aktenkundig wurden).
In der Praxis habe ich bislang noch nicht gehört, dass bei der Entscheidungsfindung eines Alg II-Trägers die Kompetenz der Jugendhilfe hinzugezogen wurde. Aus der Alltagspraxis der Alg II-Behörde bekannt sind eher eine mangelnde Sensibilität gegenüber sozialen Problemlagen, generelles Misstrauen und die Angewohnheit, die Betroffenen mit überzogenen Nachweispflichten zu belegen. Demgegenüber hat das LSG Hamburg bereits klargestellt, dass die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Grundes nicht überspannt werden dürften. Im vorliegenden Fall akzeptierte das Gericht im Gegensatz zur ARGE eine eidesstattliche Versicherung einer schwangeren U-25-Jährigen und ihrer Mutter, in der die schwerwiegende Problemlage dargestellt wurde.
Das LSG verwies hier auf die Entscheidung des BSG vom 2. Juni 2004 (Az: B 7 AL 38/03 R), in der hervorgehoben wurde, dass „die Anforderungen an den Schweregrad der Störung nicht überzogen werden dürfen”. Das LSG fügte hinzu, dass es hier nicht allein um das Verhältnis der Schwangeren zu ihrer Mutter (hier auch der Schwester) ginge, sondern außerdem „um die schützenswerten Interessen des werdenden Kindes”. Weiter wird auf die oben angegebene BSG-Entscheidung verwiesen, um klar zustellen, „dass die Einschaltung von Trägern der Jugendhilfe – oder ähnlichen öffentlichen Einrichtungen – zwar ein Indiz für das Vorliegen einer nachhaltigen Beziehungsstörung sein könne, nicht aber Voraussetzung für die Anerkennung einer solchen sei”. (LSG Hamburg, 02.05.2006, Az: L 5 B 160/06 AS ER)
Was tun bei unaufschiebbarem Auszug?
§ 22 Abs. 2a Satz 3 SGB II besagt, „von der Zusicherung kann abgesehen werden, wenn einer der Gründe vorliegt und es aus wichtigem Grund nicht möglich war, die Zusicherung einzuholen.”
Aus unserer Erfahrung mit der Zusicherungspraxis der Behörden kann auch in Notlagen dringend dazu geraten werden, vor dem Auszug möglichst die Zustimmung der Behörde einzuholen oder sie zumindest zuvor darüber in Kenntnis zu setzen. In der Praxis wird es schwer sein, im nachhinein die Behörde von einem wichtigen und dringlichen Auszugsgrund zu überzeugen. Als hieb- und stichfeste Gründe werden wohl – spätestens von einem Sozialgericht – anerkannt, wenn der Auszug unaufschiebbar ist und ein junge Frau schwanger ist bzw. mindestens ein Kind bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres versorgt und erzieht.5
Bei allen anderen Konstellationen mit jungen Erwachsenen wird es in der Praxis eher schwer sein, die Behörde im nachhinein davon zu überzeugen, dass eine Zusicherung „aus einem wichtigem Grund” nicht eingeholt werden konnte. Die Beweislast liegt dann bei den Betroffenen. Offensichtliche körperliche oder psychische Gewalt oder zumindest zu deren offene (bekannt gewordene oder durch Zeugen belegbare) Androhung, wären klare Gründe, die Erteilung einer solchen Zusicherung nicht abzuwarten. Sollten die Anforderungen an die Glaubhaftmachung der Auszugsgründe zu hoch angesetzt werden, ist sowohl bei der nachträglichen Anerkennung eines unabweisbaren Auszuges als auch bei der generellen Verweigerung der Zusicherung zu prüfen, ob ein Antrag auf einstweilige Anordnung beim Sozialgericht zum Ziel führt.
4. Gründe zur Zusicherung der Kostenübernahme nach einem Umzug
Die Empfehlungen des Deutschen Vereins zu § 22 Abs. 2a erhalten eine nicht abschließende Liste mit möglichen Gründen für die Erteilung der Zusicherung. (Falls verfügbar, habe ich einen Verweis auf entsprechende Sozialgerichtsentscheidungen beigefügt.)
Ein schwerwiegender sozialer Grund liegt demnach vor, wenn zum Zeitpunkt der Antragstellung:
„(…)
- eine schwere Störung der Eltern-Kind-Beziehung besteht: das Zusammenleben von Eltern und der Person unter 25 Jahren aus physischen und/oder psychischen Gründen nicht mehr möglich ist oder ein Zusammenleben wechselseitig nicht mehr zumutbar ist,
- ohne Umzug Gefahr für das körperliche, geistige oder seelische Wohl der Person unter 25 Jahren besteht,
- die Platzverhältnisse in der Wohnung der Eltern zu beengt sind,
- bei Zusammenleben mit Geschwistern in der Wohnung der Eltern eine Geschlechtertrennung nicht möglich ist,6
- ein Verweisen auf die Wohnung der Eltern mangels entsprechender Pflichten nach dem BGB (z.B. Entscheidung der Eltern gegen Gewährung von Naturalunterhalt bzw. Titel des Kindes auf Barunterhalt, § 1612 BGB, oder Entscheidung des Vormundschaftsgerichts auf Unterbringung außerhalb des Elternhauses) nicht möglich ist bzw. ein Verweisen unzumutbar ist, weil z.B. der sorgeberechtigte Elternteil sein Sorgerecht nie oder für längere Zeit nicht ausgeübt hat,
- die Person unter 25 Jahren fremd untergebracht ist oder sich in einer Einrichtung nach § 67 SGB XII oder in anderen Einrichtungen nach dem SGB II, SGB VIII oder SGB XII aufhält, für den Fall, dass sie aus einer solchen Einrichtung eine eigene Wohnung bezieht (im Vordergrund steht hier der „Therapie-”erfolg, welcher durch Zurückziehen zu den Eltern nicht gefährdet werden soll),
- die Person unter 25 Jahren eine eigene Familie hat (z.B. Heirat/ Lebenspartnerschaft oder Kind; ehe- oder partnerschaftsähnliche Beziehungen zählen hingegen nicht dazu).”7
Als sonstige ähnlich schwerwiegende Gründe werden in den Empfehlungen genant, wenn:
„(…)
- der Erstauszug sachlich gerechtfertigt war oder eine Zusicherung erteilt wurde und die Umstände sich nicht verändert haben,
- die Unter-25-Jährige schwanger ist,8
- der unter 25-jährige Kindsvater mit der Schwangeren zusammenziehen und eine eigene Familie gründen will. Das gilt auch für den unter 25-jährigen Partner der Schwangeren.”9
Ein weiterer Grund liegt vor, wenn die Eltern oder ein Elternteil an einen anderen Ort umziehen.10 Zudem sollte davon ausgegangen werden, dass bei entsprechender Ausgangslage Antragstellenden eine Zusicherung im Rahmen des Ermessens auch aufgrund anderer Lebenslagen erteilt werden kann, vor allem, wenn diese kurz vor Vollendung des 25. Lebensjahrs stehen.11
5. Exkurs: weitere spezifische Problemlagen junger Frauen im Alg II-Bezug
Es soll bekanntlich auch U-25-Jährige geben, die im Haushalt der Eltern wohnen und nicht ausziehen wollen. Auch hier ergeben sich aufgrund der Sonderbehandlung durch das SGB II-Leistungsrecht häufiger Fallkonstellationen, die besondere Probleme für junge Frauen mit sich bringen:
- Die unter 25-jährige schwangere Tochter ist hilfebedürftig und lebt im Haushalt der Eltern: Hier wird entgegen der weit verbreiteten Praxis gemäß § 9 Abs. 3 SGB II das Einkommen und Vermögen der Eltern nicht zum Unterhalt herangezogen. Die Tochter hat demnach unabhängig von der Leistungsfähigkeit der Eltern Anspruch auf Alg II, aber nicht auf die volle Regelleistung, sondern nur 80%, und den entsprechenden Mehrbedarfszuschlag ab der 13. Schwangerschaftswoche.
- Dementsprechend wird bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahrs des Kindes auch bei im Haushalt der Eltern lebenden Alleinerziehenden das Einkommen und Vermögen der Eltern nicht berücksichtigt (s.o. § 9 Abs. 3 SGB II).
- Häufig wird Alleinerziehenden, die im Haushalt der Eltern leben, der Anspruch auf die volle Regelleistung nach § 20 Abs. 2 SGB II verwehrt.
- Zudem haben Alleinerziehende, die im Haushalt der Eltern wohnen, i.d.R. einen Anspruch auf den entsprechenden Mehrbedarf für Alleinerziehenden. Die häufige Anwesenheit der Eltern/Großeltern und gelegentliches Betreuen reichen nicht aus, um der Mutter diesen Status zu versagen. Erst wenn z.B. Eltern bzw. Großeltern „für mindestens gleiche Teile des Tages mit der Erziehung oder Pflege betraut sind”, würde die Mutter nach dem Gesetz nicht mehr als alleinerziehend gelten.12
- Gleiches gilt, wenn der Kindesvater im selben Wohnort wohnt und sein Umgangsrecht häufig und regelmäßig wahrnimmt. Auch in solchen Konstellationen erliegen Alg II-Träger allzu leicht der Versuchung, den Mehrbedarfszuschlag zu streichen. Zu Unrecht, wie u.a. das SG Lüneburg ausführte.13
6. Folgen des SGB II-Änderungsgesetzes
Erwachsene Menschen werden fortan mit einer Regelleistung für Kinder abgespeist, die noch nicht einmal der alten Sozialhilfe vor 2005 entspricht. Diese orientierte sich mit „immerhin” 90% des Eckregelsatzes bei 15 bis 18-Jährigen an einem erhöhten Bedarf von Heranwachsenden in dieser Altersgruppe. Sie werden somit in einer entscheidenden Entwicklungsphase jeglicher Autonomie und wirtschaftlicher Dispositionsfreiheit beraubt. Die knappen Mittel erfordern in Bedarfsgemeinschaften zwangsläufig ein (Mangel-) Wirtschaften aus einem Topf mit den Eltern. Das enge Abhängigkeitsverhältnis fördert familiäre Krisen und fordert Konflikte nahezu heraus. Verschärft wird die Situation, wenn junge Erwachsene zuvor bereits einen eigenen Haushalt geführt haben.
Die gesteigerte Unterhaltspflicht der Eltern führt vor allem zur Verschönerung der Statistik, denn viele erwerbslosen junge Erwachsene verlieren ihren Anspruch auf Leistungen gänzlich, weil die Eltern aufgrund von Einkommen und Vermögen in der Lage sind, deren Lebensunterhalt zu bestreiten. Das führt zwar zur Abnahme von Alg II-Bedarfsgemeinschaften aber es führt auch zum Verlust der Selbstbestimmung von erwachsenen jungen Menschen. Und gerade die sollte mit der Abschaffung der Unterhaltsverpflichtung der Eltern nach bürgerlichem Recht gegenüber ihren erwachsenen Kindern im Zuge der Hartz IV-Reform gestärkt werden. Die Absicherung des „Risikos Erwerbslosigkeit” sollte gerade nicht mehr der Familie aufgebürdet werden.
Die Zustimmungserfordernis des Alg II-Trägers zum Umzug und ihre restriktive Auslegung führt dazu, dass Zufälle darüber entscheiden können, ob Leistungsansprüche bestehen oder junge Menschen auf die Wohnung der Eltern verwiesen werden. Junge Erwachsene, die (mehr oder weniger) zufällig während Ausbildung, Studium oder dem frühen Berufsleben das Elternhaus verlassen, haben später einen elternunabhängigen Anspruch auf Alg II, falls sie hilfebedürftig werden. Müssen sie dann während des Leistungsbezuges (mehr oder weniger) zufällig die Wohnung wechseln, können sie gedrängt werden, wieder in die Wohnung der Eltern zu ziehen und mit diesen aus einem Topf zu wirtschaften. Das Gesetz und die Verwaltungspraxis sind lebensfremd, die Konsequenzen sind für Betroffene längst nicht mehr nachvollziehbar. Wer sich schlau macht und sich gegen solche Regelungen zur Wehr setzt, ist daher gut beraten.
Was geschieht aber, wenn die junge Erwachsene in Unkenntnis der Rechtslage bereits ausgezogen sind, wenn sie die Entscheidung der Behörde nicht abwarten können oder den Umzug tätigen, obwohl die Zusicherung nicht erteilt wurde? Wie sollen sie fortan mit 278 Euro ohne die Übernahme der Wohnkosten überleben? Wie sollen sie für die in der Zwischenzeit auflaufenden Kosten aufkommen? Hier kann natürlich geprüft werden, ob ein Antrag auf einstweilige Anordnung beim zuständigen Sozialgericht Aussicht auf Erfolg hat. Aber es gibt vielleicht eine andere Möglichkeit, die Entscheidung zu beschleunigen, bzw. es gar nicht soweit kommen zu lassen: Eltern sind über die Unterhaltspflicht nach dem BGB hinaus nicht verpflichtet, ihre Kinder bis zur Vollendung des 25 Lebensjahres zu unterhalten und zu versorgen. Sie sind keine ”Rabeneltern”, wenn sie ihre Kinder einfach früher „rausschmeißen”…14
Bei allen oben beschrieben Problemlagen müssen sich Betroffene darauf einstellen, ihre „Geschichte” bestehend aus intimen Gefühlen, peinlichen Begebenheiten oder schrecklichen Erlebnissen gegenüber der Alg II-Behörde ggf. in Einzelheiten glaubhaft darzulegen. Das allein führt schon zur grenzüberschreitenden Verletzung der Intimsphäre und das geht vielen jungen Erwachsenen entschieden zu weit, wenn es darum geht, den Anspruch auf eine eigene Wohnung durchzusetzen. Wir sollten sie ermuntern, ihre Rechte wahrzunehmen und sie dabei nach Kräften unterstützen.
Tacheles Onlineredaktion
Frank Jäger
Fussnoten
1) Hierzu können z.B. gezielte Informationen beitragen, die an LehrerInnen in Haupt-, Real- und Berufs-schulen gereicht werden, oder Informations- und Diskussionsveranstaltungen, die in Jugendzentren oder anderen Projekten für Jugendliche und junge Erwachsene durchgeführt werden.
2) Eine Kürzung der Regelleistung auf 80 % ist dem Wortlaut des Gesetzes jedoch nicht möglich, denn die Voraussetzungen des § 20 Abs. 2a SGB II sind nicht erfüllt.
3) Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, Empfehlungen zu § 22a SGB II – Leistungen für Unterkunft und Heizung bei Personen unter 25 Jahren, DV 37/06 AF III, 06.12.2006
4) d.h. nur zur Feststellung der Gründe relevante Daten
5) Von BeraterInnen aus den neuen Bundesländern wurde bereits häufiger beobachtet, dass junge Frauen ihre Schwangerschaft gezielt herbeiführen, nur um einen Grund für den Erstauszug aus dem Elternhaus zu vorweisen zu können.
6) SG Berlin, 07.04.2006 Az: S 53 AS 2004/06 ER
7) Deutscher Verein, Empfehlungen, S. 3 f.
8) LSG Hamburg, 02.06.2006, Az: L 5 B 169/06 AS ER
9) Deutscher Verein, Empfehlungen, S. 4 f.
10) LSG Thüringen, 06.02.2007, Az: L7 B 69/06 AS
11) Vgl. Deutscher Verein, Empfehlungen, S. 5.
12) SG Oldenburg, 16.01.2007, Az: S 45 1800/06 ER
13) SG Lüneburg, 31.05.2007, Az: S 24 AS 82/07
14) … und das der Alg II-Behörde gegenüber schriftlich begründen und ggf. an Eides statt versichern.
29. Oktober 2007