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Privat versicherte Hartz IV Empfänger - Opfer mangelnder Konsensfähigkeit der Regierungskoalition

Weitgehend unbemerkt ist am 01.01.2009 eine Gesetzesänderung mit weitreichenden finanziellen Folgen für Hartz IV - Bezieher, die unmittelbar vorher privat versichert waren, in Kraft getreten. Nach dem neuen § 5 Abs. 5 a SGB V, der bereits in den Gesetzesberatungen 2007 zum Gesundheitsreformgesetz Gegenstand heftigen Streits war, ist dieser Personenkreis nicht mehr, wie die meisten Hartz IV -Leistungsempfänger, gesetzlich krankenversichert.

Es ist gesetzlich angedacht, daß er in den neuen Basistarif gem. § 12 VAG (Versicherungsaufsichtsgesetz) wechselt. Dieser kostet in der Regel den Höchstbetrag der gesetzlichen Krankenversicherung, z. Zt. Ca. 570 €. Nach dieser Vorschrift wird für Hartz IV - Bezieher dieser zwangsweise zu Lasten der PKV halbiert.

So führte auch jüngst das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 10.6.2009, 1 BvR 706/08 aus, daß die in § 12 Abs. 1c Satz 4 bis 6 VAG vorgesehenen Beitragsbegrenzungen bei Hilfebedürftigkeit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden seien. Sie seien nach der Einführung von Versicherungspflicht und Kontrahierungszwang in der privaten Krankenversicherung sogar unerlässlich, um für Personen, die sich aus wirtschaftlichen Gründen die Normaltarife nicht leisten können, dennoch eine private Krankenversicherung zu ermöglichen.

Nach der besagten Regelung wird der restliche Fehlbetrag, wenn dadurch Hilfebedürftigkeit vermieden werden kann, d.h. der Personenkreis ohne den Beitrag nicht hilfebedürftig wäre, insoweit von den SGB II-Trägern übernommen werden. Dies gilt aber nicht, wenn der Betroffene auch ohne die Beiträge hilfsbedürftig ist. In diesem Fall tragen die Jobcenter und ARGEn tragen jedoch nach Satz 5 der Vorschrift nur den Höchstbetrag für SGB II - Bezieher von z. Zt. 129,54 €. Es verbleibt eine Lücke von mindestens 155 € zzgl. Pflegeversicherung für die niemand zuständig ist und vom Regelsatz von derzeit 359 € zu zahlen ist, wenn kein Zusatzeinkommen (Aufstocker) vorhanden ist, von dem der Betrag abgesetzt werden kann, was bei alleinerziehenden Müttern und Kranken oft der Fall ist. Hier wurde dieser Personenkreis einfach sehenden Auges ihrem Schicksal, genauer gesagt, dem Gerichtsvollzieher der privaten Krankenversicherer überlassen. Die Brisanz dieses Themas zeigt sich daran, daß der Bundesrat bereits Ende April an die Bundesregierung appellierte, diesen, so wörtlich "unzumutbaren Zustand" zu beenden (BT Drucksache 16/12677). Die Bundesregierung sicherte Prüfung dieses "Problems" zu, doch ist bis heute kein Ergebnis abzusehen.

Die Folge ist, daß der Basistarif nach Ansicht der PKV aufgrund des Zahlungsverzuges ruht, wobei der Gesetzgeber dann in § 193 VVG (Versicherungsvertragsgesetz) nur einen Notversicherungsschutz für Akuterkrankungen anordnet. Merkwürdigerweise ist in Abs. 5 angeordnet, daß das Ruhen endet, sobald Hilfebedürftigkeit i.S. des SGB II oder XII eintritt .Hier kritisiert der Bundesrat massiv zu Recht, daß nicht klar geregelt sei, was gelte, wenn die Hilfebedürftigkeit schon von Anfang an bestanden hat und zum Ruhen geführt hat. Für die Privatversicherer ist die Auslegung verständlicherweise klar.

Diese müssen mangels Kündigungsrecht durch das neue Versicherungsvertragsgesetz dadurch faktisch kostenlos versichern, was diese sich nicht bieten lassen. Die privaten Krankenversicherer leiten konsequent wegen des Beitragsrückstandes das Mahnverfahren und die Zwangsvollstreckung ein. Hier entstehen gravierende Folgekosten. Auch gewähren Sie entgegen den Beteuerungen des Ministeriums nur noch den erwähnten "Notversicherungsschutz". Dann kommt der Gerichtsvollzieher und es droht gar der "Offenbarungseid". Das Problem ist im zuständigen Ministerium und der Bundesregierung bestens bekannt, wobei man nach der Wahl Abhilfe prüft. Nach den Äußerungen der CDU/CSU im Ausschuss für Arbeit und Soziales sei das Problem jedenfalls nicht auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern der örtlichen Sozialleistungsträger zu lösen.

Es ist skandalös, daß die ungelösten Probleme mit den Privatversichern in Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen wehrlose Hartz IV -Betroffene, oftmals alleinerziehende Mütter, verlagert werden.

Die Lösung dieser widersprüchlichen Gesetzeslage kann derzeit wohl nur darin liegen, daß die Jobcenter und Sozialämter durch eine komplette Streichung des § 12 Abs. 1 c Satz 5 VAG die nicht gedeckten Kosten übernehmen müssen. Dies ist schon allein vom Grundsatz des sozialhilferechtlichen Bedarfsdeckungsprinzips her geboten.

Es wird Betroffenen dringend empfohlen, gegen ablehnende Bescheide der Jobcenter und Sozialämter auf Beitragsübernahme Widerspruch einzulegen. So hat auch bekanntlich das Landessozialgericht Baden-Württemberg in den Beschlüssen vom 30. Juni und 8. Juli 2009; AZ: L 2 SO 2529/09 Er-B und L 7 SO 2453/09 ER-B entschieden, daß des dem Versicherten «als schwächstem Glied in der Kette» es nicht zugemutet werden könne, die Folgen dieser gesetzgeberischen Unzulänglichkeit zu tragen und die Sozialleistungsträger zur Übernahme der Deckungslücke verpflichtet.

Mindestkrankenversicherung gehört nach dem aktuellen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Februar 2008 - 2 BvL 1/06 zum Existenzminimum. Dies ist ein unabweisbarer Bedarf, der in verfassungskonformer Auslegung des § 23 Abs. 1 SGB II als sog. Nulldarlehen (Darlehen mit gleichzeitigem Erlass gem. § 44 SGB II) oder durch verfassungsgemäßer Erweiterung der § 23 Abs. 3 SGB II als Zusatzaufwand zu gewähren ist.

Rechtsanwalt Markus Klinder
Kardenstr. 45
45768 Marl-Polsum
www.ra-klinder.de



Zusatzbemerkung der Tacheles Redaktion



Der Kollege Kinder hat den sog. „Nulldarlehnsweg” aufgezeigt, sozialrechtlich wäre aber auch der Weg über die „Hilfe in sonstigen Lebenslagen” nach § 73 SGB XII möglich. Diesen Weg ist auch das LSG BaWü in seinen zwei Entscheidungen gegangen. Letzter Weg ist meiner Rechtsauffassung nach aufgrund des Ausschlusses weiterer Leistungen nach § 3 Abs. 3 Satz 2 SGB II ausgeschlossen, Kraft der Fachdiskussion in der Rechtsprechung, angefangen an der BSG-Entscheidung zu dem Umgangskosten (BSG vom 07.11.20006 - B 7b AS 14/06 R) und über die vom LSG Niedersachsen-Bremen schon 2007 in Aussicht gestellten Relevanz der Öffnung nach § 73 SGB XII „… § 73 SGB XII wird in der Rechtsanwendung eine zunehmende Bedeutung erfahren, und zwar unterhalb der Schwelle einer Verletzung der Menschenwürde. Da im SGB XII systematisch die Unterscheidung zwischen HLU und HbL aufgegeben worden ist, besteht kein Grund mehr, den Anwendungsbereich von § 73 SGB XII auf Hilfesituationen zu beschränken, die dem Grunde nach nicht zum Lebensunterhalt gehören …” (LSG NSB vom 03.12.07 – L 7 AS 666/07 ER).

Bedingt durch die beiden Entscheidungen vom LSG BaWü gehe ich davon aus, dass die Rechtsprechung den Weg über § 73 SGB XII nehmen wird. Es ist daher den Betroffenen zu empfehlen einen Antrag nach SGB II, hilfsweise nach SGB XII zu stellen und bei Ablehnung oder Nichtreaktion des Amtes innerhalb kürzester Zeit in den einstweiligen Rechtsschutz zu gehen und den Anspruch über eine Eilklage beim Sozialgericht zu realisieren.

Tacheles Onlineredaktion
Harald Thomé





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