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Keine Familienversicherung mehr bei AlG II - was bedeutet das?

Seit einigen Wochen fühlen sich viele Eltern verunsichert, weil ihnen die Jobcenter mitteilen: ab Januar 2016sind Jugendliche nicht mehr familienversichert, wenn die Eltern AlG II beziehen. Kein Grund zur Sorge: dieSöhne und Töchter, auch die Ehefrauen und Ehemänner bleiben weiterhin krankenversichert. Und siemüssen auch künftig den Beitrag nicht selbst bezahlen, wenn sie Leistungsbezieher sind.Geändert wird eigentlich nur ein Satz im Gesetz. In § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V steht noch bis Jahresende 2015:

"Versicherungspflichtig sind ... Personen in der Zeit, für die sie Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten Buch beziehen, soweit sie nicht familienversichert sind, (...) dies gilt auch, wenn die Entscheidung, die zum Bezug der Leistung geführt hat, rückwirkend aufgehoben oder die Leistung zurückgefordert oder zurückgezahlt worden ist."

Gestrichen wird der Nebensatz "soweit sie nicht familienversichert sind". Was ändert sich dadurch?

Seit der Einführung des SGB II im Jahr 2005 gilt: in einer Bedarfsgemeinschaft ist im Regelfall nur eine einzige Person über das Jobcenter als Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse pflichtversichert, den Beitrag dafür bezahlt die Bundesagentur für Arbeit. Die Kinder und der Ehepartner (oder eingetragener Lebenspartner, sogenannte „Homo-Ehe“) sind dann über diese Person familienversichert in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Sie sind automatisch bei derselben Kasse versichert wie derjenige, der selbst Mitglied ist. Also als typischer Fall: Mutter, Vater, 16jähriges Kind als Schüler: ein Elternteil ist Mitglied der Krankenkasse (die BA bezahlt den Beitrag), der andere und das Kind sind beitragsfrei familienversichert - nicht viel anders, als wenn einer der Eltern Arbeitnehmer ist.

Ausnahmen gab es schon bisher. Davon betroffen sind vor allem:

- Privatversicherte (da gibt es keine Familienversicherung)

- Familienangehörige, die aus anderen Gründen selbst pflichtversichert sind, etwa als Arbeitnehmer

- BG-Mitglieder in eheähnlicher Beziehung (dann muss ggf. die BA für beide Beiträge bezahlen)

Neu ist ab 2016: nun wird jeder AlG-II-Bezieher selbst Mitglied einer Krankenkasse.

Das betrifft im Beispiel "Mutter, Vater, 16jähriges Kind als Schüler" alle drei Personen, da auch ein Jugendlicher ab 15 AlG II bezieht. Nicht betroffen sind Kinder unter 15, da sie Sozialgeld bekommen - sie bleiben weiterhin familienversichert bei einem Elternteil. Die nun neuen Versicherungsbeiträge für  Ehepartner und Jugendliche bezahlt die BA an die Kranken- und Pflegeversicherung.

Ein Jugendlicher oder junger Erwachsener kann aber in verschiedenen Situationen aus dem AlG-II-Bezug herausfallen, obwohl seine Eltern Leistungsbezieher sind. Auch dann ändert sich nichts. Beispiele wären:

1. Der Jugendliche hat ausreichend eigenes Einkommen, z.B. Unterhalt vom anderen Elternteil. Dieses Einkommen beeinträchtigt die Familienversicherung nicht (weil es steuerfrei ist). Als Nicht-AlG-II-Bezieher betrifft ihn die Neuregelung nicht, er kann weiterhin bei einem Elternteil familienversichert sein.

2. Der Jugendliche ist zum Beispiel als Auszubildender selbst pflichtversichert. Dann bleibt alles wie bisher, seine Versicherung läuft über die Ausbildungsvergütung.

3. Der Jugendliche bekommt kein AlG II, weil er zu 100 % sanktioniert wurde und auch keine Lebensmittelgutscheine erhält, oder weil er persönlich zu hohes Vermögen hat. Auch dann gilt: er wird in aller Regel wieder die Bedingungen der Familienversicherung erfüllen (siehe dazu den Beitrag von Claudia Mehlhorn für Tacheles: http://tacheles-sozialhilfe.de/startseite/aktuelles/d/n/1878/)

4. Der Jugendliche oder junge Erwachsene nimmt ein Studium auf und wechselt von AlG II zu BAföG: Studenten bleiben ebenfalls bis unter 25 noch familienversichert, wenn sie als Einkommen nur BAföG und/oder einen Minijob (bis 450 Euro) haben. Wer wegen einem Nebenjob mehr verdient, kann in die studentische Krankenversicherung wechseln (und erhält dafür ggf. einen BAföG-Zuschuss) - aber das hängt dann sehr von den individuellen Umständen ab.

Natürlich gibt es noch mehr Fälle. Bitte informiert Tacheles, wenn dazu Fragen auftauchen, wir können dann diesen Beitrag ergänzen. Persönlich wendet man sich zur Beratung in dieser Angelegenheit NICHT an das Jobcenter, sondern an die gesetzliche Krankenkasse. Nur sie ist die dafür zuständige Behörde, und dort findet man die Experten für Versicherungsfragen. Das Jobcenter ist auch an die Entscheidung der Krankenkasse gebunden.

Aber einiges ändert sich doch für die Betroffenen: die Kassenwahl und die Beitragserstattung.

Wer bisher als Ehepartner oder Kind familienversichert war, hatte kein eigenes Krankenkassenwahlrecht. Mit der Änderung aber schon. Beispiel: die Mutter/Ehefrau war bisher bei der AOK als Pflichtmitglied, die Kinder (ab 15) und der Ehemann deshalb automatisch ebenfalls dort familienversichert. Ab Januar 2016 kann z.B. der Mann zur Techniker-Krankenkasse und die 15jährige Tochter zur DAK wechseln, wenn sie das wollen. Sie müssen dazu dem Jobcenter eine Aufnahmebescheinigung der jeweiligen Krankenkasse vorlegen, spätestens am 14. Januar 2016 (aber vor dem Jahreswechsel bei der Krankenkasse beantragen!). Wenn nicht, bleiben sie automatisch bei der bisherigen Kasse. Daran ist man dann für 18 Monate gebunden. Meistens ist es völlig egal, bei welcher gesetzlichen Kasse man versichert ist. Zusatzbeiträge würden erst dann eine Rolle spielen, wenn man später z.B. als Arbeitnehmer selbst beitragspflichtig wird. Deshalb kann sich der Wechsel zu einer Kasse ohne Zusatzbeitrag lohnen, wenn der Familienangehörige innerhalb der nächsten 18 Monate selbst Arbeitnehmer wird. Wer dauerhafte Leistungen seiner Krankenkasse bezieht, oder über den Jahreswechsel hinweg anstehende Leistungsfälle hat (etwa eine genehmigte Kur), muss vorher klären, ob die neue Kasse das übernimmt. Das gilt auch, wenn man leihweise Hilfsmittel erhalten hat oder an besonderen Programmen der Krankenversorgung wie der integrierten Versorgung teilnimmt. Wer diese Gelegenheit nutzen und die Kasse wechseln will, sollte sich spätestens vor Weihnachten bei der gewünschten neuen Krankenkasse erkundigen. Sonst wird es zeitlich eng.

Und wirklich teuer wird es bei einer Erstattung des AlG II bei unrechtmäßigem Leistungsbezug, also zum Beispiel wenn Einkommen oder Vermögen verschwiegen oder zu spät gemeldet wurden. Wenn die Leistung für eine Person vollständig und für einen ganzen Kalendermonat zu erstatten ist, müssen auch die von der BA gezahlten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung erstattet werden. Das betraf bisher meist nur eine Person der Bedarfsgemeinschaft (bei eheähnlichen Partnerschaften zwei), und es entfiel auch für diese Person, wenn sie z.B. wegen Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung im gleichen Zeitraum anderweitig beitragspflichtig versichert war. Wenn aber rückwirkend gesehen ohne AlG II eine Familienversicherung zutreffend gewesen wäre, sind die trotzdem gezahlten Beiträge der BA dennoch zu erstatten vom Versicherten. Das wird aber 2016 dann oft alle Personen ab 15 in der Bedarfsgemeinschaft betreffen, nicht mehr nur eine. Der Grund ist, dass die Pflichtversicherung wegen AlG II auch bei einer späteren Leistungsaufhebung nicht rückwirkend beseitigt wird und somit eine Familienversicherung verdrängt bleibt (dazu, allerdings noch für die frühere Arbeitslosenhilfe, BSG 05.02.1998, B 11 AL 69/97 R).

Und warum überhaupt die Änderung?

(gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung). Damit wird Geld verschoben, vom SGB II ins SGB V und XI. Die Bundesagentur bezahlt wahrscheinlich mehr als bisher an die Kranken- und Pflegeversicherung. Nicht nur, weil auch Jugendliche und Ehepartner nun extra zu versichern sind. Geändert wird auch die Beitragsbemessung bei Aufstockern. Bisher musste die BA weniger bezahlen, wenn ein Leistungsempfänger als Aufstocker zusätzlich über seinen Arbeitgeber versichert war. Die Berechnung war äußerst kompliziert (wer es nachvollziehen will, lese § 232a SGB V und § 57 SGB XI). Gleichzeitig wird aber die Beitragshöhe je Person geringer. Künftig gilt unabhängig davon ein Festbetrag, der 2016 wahrscheinlich bei ca. 100 bis 110 Euro monatlich liegen wird – die genauen Berechnungsgrundlagen für 2016 sind noch nicht festgelegt.

Bisher waren es rund 170 Euro, aber eben für weniger selbst versicherte Personen. Ob die Beitragssenkung wirklich die größere Zahl der Pflichtversicherten ausgleicht, wird erst die Zukunft zeigen. Aber wie gesagt: auch den neuen Beitrag bezahlt die BA, nicht der Leistungsempfänger. Für Bezieher von anderen Sozialleistungen wie AlG I oder Rente galt schon immer eine individuelle Versicherung, AlG II war die Ausnahme. Seit 2005 sind eben auch 15jährige „Arbeitssuchende“, obwohl sie noch zur Schule gehen – und das auch weiterhin sollen und dürfen.

(Stand 12.9.2015 – www.erwin-denzler.de/impressum.html – veröffentlicht bei http://tacheles-sozialhilfe.de)

Der Text zum Download



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