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Ein Systemwechsel vom Sozialstaat zum Wettbewerbsstaat

Nun liegt der „aktivierenden Sozialpolitik”, dem Konzept des „aktivierenden Sozialstaats” die Diagnose zu Grunde, dass der rheinische Sozialstaat mit seiner Schwerpunktsetzung auf so genannte „passive” Sozialleistungen, also Lohnersatzleistungen und andere Leistungen zum Lebensunterhalt, zu einer „Passivierung” der Betroffenen geführt habe. Hohe Sozialleistungen hätten die Erwerbslosen verlockt, sich im Transferleistungsbezug einzurichten, sich mit Erwerbslosigkeit abzufinden, und dadurch ihre Eigeninitiative und Eigenverantwortung untergraben und geschwächt. Darin sei eine wesentliche Ursache vor allem für die strukturelle Verfestigung von Langzeit- und Dauererwerbslosigkeit auf hohem Niveau zu sehen.
Dies sei Folge eines Begriffs von sozialer Gerechtigkeit gewesen, der die Verteilungsgerechtigkeit zu stark und zu lange in den Vordergrund gestellt habe. Das habe letztlich nicht zu Teilhabe, sondern zu Ausschluss aus der Erwerbsgesellschaft geführt.
Es müsse deshalb darum gehen – so die Philosophie der sozialpolitischen „Modernisierung” -, mit einer aktivierenden Politik des „Fördern und Fordern” die Passivierung aufzubrechen, Eigeninitiative und Eigenverantwortung zu stärken und soziale Inklusion vorrangig als Eingliederung in Arbeit zu verstehen. Deshalb müsse ein moderner Gerechtigkeitsbegriff vorrangig auf Chancengerechtigkeit statt auf Verteilungsgerechtigkeit zielen. Eine „aktivierende” Politik der Chancengerechtigkeit müsse also einerseits Chancen bieten, andererseits aber von den Betroffenen auch verlangen, dass sie solche Chancen wahrnehmen. Wer dazu nicht bereit sei, könne keinen Anspruch auf staatliche Alimentierung erheben.
Zur weiteren Umsetzung der Aktivierungsstrategie des „Fördern und Fordern” setzt Hartz IV auf verschiedene Maßnahmen, wovon die spektakulärste sicherlich die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe ist
Damit wird das seit 1927 in Deutschland geltende dreigliedrige System zur Unterstützung von Menschen bei Erwerbslosigkeit aufgegeben und in ein zweigliedriges System umgebaut. Seit 1927 hatten wir das Arbeitslosengeld als eigentliche Versicherungsleistung der Arbeitslosenversicherung. Danach kam die steuerfinanzierte Lohnersatzleistung auf niedrigerem Niveau, die wir als Arbeitslosenhilfe kennen, und ganz unten gab es noch die Armenfürsorge, aus der die Sozialhilfe hervorging. Das mittlere System der lohnbezogenen Arbeitslosenhilfe wird jetzt abgeschafft, so dass all diejenigen, die darauf angewiesen sind, mitsamt ihrer Familien in das unterste, das Fürsorgesystem gedrückt werden.
Die Bezeichnung „Arbeitslosengeld II” ist irreführend. Es müsste eigentlich „Sozialhilfe” heißen, oder genauer „Sozialhilfe E” (wie Erwerbssuchende) - im Unterschied zur „Sozialhilfe AB” (bei Alter und Behinderung) und zur „Sozialhilfe R” (für den Rest).
Die „Grundsicherung für Erwerbslose” bildet jetzt das Sozialgesetzbuch (SGB) II und ist damit aus dem Arbeitsförderungsrecht (SGB III) ausgegliedert. Die „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung” und die Rest-Sozialhilfe bilden zusammen das neue SGB XII.
Leistungsberechtigt nach dem SGB II sind alle bedürftigen Erwerbslosen zwischen 15 und 65 Jahren, die mindestens drei Stunden täglich arbeiten können (Erwerbsfähigkeit). Es sei denn, sie sind Flüchtlinge und unterliegen dem Asylbewerber-Leistungsgesetz. Neben den Leistungen für den/die Erwerbslose/n (ALG II) regelt das SGB II auch die Leistungen für deren nicht erwerbsfähige Haushaltsangehörige („Sozialgeld”). Leistungsberechtigte nach dem SGB II haben keinen Anspruch auf (ergänzende) Leistungen nach dem SGB XII (Sozialhilfe).
Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe wird zumeist begründet mit der Behauptung, es sei Unsinn, dass zwei steuerfinanzierte Parallelsysteme nebeneinander für die Existenzsicherung von erwerbsfähigen Menschen ohne Arbeit zuständig sind. Das produziere nur eine teure Mehrfachverwaltung von Armut, unter der auch die Betroffenen selbst litten.
Dazu ist erstens zu sagen: Es waren politische Eingriffe in die Arbeitslosenhilfe waren, die in der Kohl-Ära dazu führten, dass Arbeitslosen- und Sozialhilfe für Erwerbsfähige immer ähnlicher wurden. Der Eindruck, dass das zwei Parallelsysteme sind, ist maßgeblich von der Politik herbeigeführt worden.
Trotzdem – und obwohl unter Rot-Grün die originäre Arbeitslosenhilfe (für bestimmte Personenkreise, die zuvor keinen Arbeitslosengeldanspruch hatten) endgültig abgeschafft wurde – bezogen 2003 nur rund sieben Prozent der Erwerbslosen ergänzende Sozialhilfe. Das bestätigt nicht unbedingt die Theorie vom Nebeneinander von zwei Parallelsystemen.
Zweitens hätte man ja dem behaupteten Nebeneinander der Parallelsysteme auch dadurch abhelfen können, dass man die erwerbslosen Sozialhilfeberechtigten in eine sozialhilfefest ausgestaltete Arbeitslosenhilfe hineinholt. Das hätte eine Reform für mehr soziale Gerechtigkeit sein können – aber das liegt halt in der entgegensetzten Richtung dessen, was man heute „Reform” nennt. Also haben wir jetzt die Systemreform für mehr Armut.
Besonders hart trifft das Frauen im Arbeitslosenhilfebezug. Die stellen die große Mehrheit, derjenigen, die wegen der verschärften Anrechnung von Partnereinkommen und -vermögen ihren Leistungsanspruch sogar ganz verlieren – einschließlich des Anspruchs auf arbeitsmarktpolitische Hilfen -, was bei gut einer halben Million Betroffener der Fall sein wird.
Dafür weist das SGB II meist Frauen die Rolle der abhängigen Haushaltsangehörigen zu, deren Anspruch auf „Sozialgeld” vom SGB II-Leistungsberechtigten abgeleitet wird. In der so genannten „Eingliederungsvereinbarung”, deren Verfassungswidrigkeit der Bundesverwaltungsrichter Professor Uwe Berlit wunderbar beschrieben hat, wird die Arbeitsverwaltung auch die Sozialgeld-Leistungen für alle Haushaltsmitglieder mit dem leistungsberechtigten Erwerbslosen vereinbaren.
Das Sozialhilfeniveau des ALG II ist aber auch nicht mehr das, was im BSHG nach langjährigen sparpolitischen Manipulationen und Deckelungen der Regelsatzentwicklung davon übrig geblieben ist. Und es ist nicht besser als das alte, sondern schlechter. Nur auf den ersten Blick liegt der Regelsatz (345 Euro/West) etwas höher. Aber gegen zu rechnen ist der weitgehende Wegfall der bisherigen „einmaligen Leistungen” des BSHG, mit denen atypische, nicht standardisierbare Hilfebedarfe aufgefangen werden sollten. Wenn also beispielsweise die alte Waschmaschine den Geist aufgegeben hatte, oder wenn mit dem Weihnachtsbaum die Wohnzimmertapete oder das Sofa abgebrannt war, dann wurden auf Antrag zusätzliche Leistungen zur Ersatzbeschaffung gewährt. Stattdessen stellt sich der Gesetzgeber jetzt auf den Standpunkt, dass die Hilfeberechtigten für solche Wechselfälle menschlichen Lebens Rücklagen aus dem leicht angehobenen Regelsatz anzusparen haben.
Auch die Zuzahlungen für alle Krankenversicherungsleistungen bis zur Höhe von zwei Prozent des Jahresbruttoeinkommens – bzw. von einem Prozent bei anerkannt chronisch Kranken – müssen im Krankheitsfall aus dem Regelsatz bestritten werden. Und alle rezeptfreien Medikamente, für die diese Obergrenzen nicht gelten, ja sowieso.
Zur Begründung wird meist darauf verwiesen, dass ja schließlich auch die Haushalte von Beschäftigten der unteren Lohngruppen mit ihrem Geld haushalten müssen. Doch Vergleiche zwischen Sozialhilfe und Lohnsystem hinken auf allen Beinen. Denn welchen Lohn der Arbeitgeber zahlt, hat mit der Bedarfslage der Familie unmittelbar nichts zu tun. Löhne und Gehälter kennen kein Bedarfsdeckungsprinzip wie die Sozialhilfe.
Bei der Sozialhilfe ging es dagegen vom Grundsatz her immer nur um eines: den Bedarf zu decken für ein Leben, das der Würde des Menschen entspricht. Gewissermaßen war die Sozialhilfe der Versuch, das zu gewährleisten, was der Sozialstaat dem Artikel 1 des Grundgesetzes schuldig ist. Der erklärt Achtung und Schutz der Menschenwürde zur Aufgabe aller staatlichen Gewalt. Und es stand nicht in Frage, dass Armut und sozialer Ausschluss die Menschenwürde verletzen. Die Sozialhilfe hat sozusagen in Geldbeträgen konkretisiert, was Menschenwürde in Deutschland mindestens kostet.
Aus der Sicht der Fachleute hat sie allerdings seit über 20 Jahren dieses Ziel in zunehmendem Maße verfehlt, und das ALG II verfehlt es nochmals mehr. Und zwar am meisten bei denen, die wegen ihrer konkreten Lebenslage eigentlich in besonderem Maße der Hilfe bedürften.Man kann also mit gewissem Recht sagen, dass mit dem ALG II auch eine Abkehr des Staats von seinem Verfassungsauftrag verbunden ist, die Menschenwürde zu schützen.
Statt Arbeitslosenhilfe gibt's also ab Januar die neue Sozialhilfe. Damit verbunden ist eine weitere „Innovation” in der Arbeitsmarktpolitik, die Herr Clement so schön auf den Punkt brachte mit dem Satz: „Jede legale Arbeit ist zumutbar.”
Legal ist alles, was nicht wegen Sittenwidrigkeit verboten oder kriminell ist. Die Löhne können bis zu 30 Prozent unter der tariflichen oder ortsüblichen Entlohnung liegen. Das ist die rechtliche Grenze. Legal ist selbstverständlich auch die ganze Palette prekärer Niedriglohnbeschäftigung, die schon in den beiden ersten Hartz-Gesetzen geregelt wurde:
  • Mini-Jobs bis 400 Euro,
  • Midi-Jobs bis 800 Euro,
  • ein flächendeckendes System staatlich geförderter Leiharbeit in Gestalt der PersonalServiceAgenturen (PSA),
  • und neue Scheinselbständigkeit in Gestalt der Ich-AG.

Mit dem SGB II kommt noch eine Beschäftigungsform dazu (Anrede), die gar kein Arbeitsverhältnis ist – der so genannte „Ein-Euro-Job”.
Dieser Begriff ist irreführend, und zwar sowohl wegen des einen Euro als auch – und vor allem – wegen des „Job”. Das sind nämlich gar keine „Jobs”, keine Arbeitsverhältnisse, wie das SGB II ausdrücklich klarstellt, sondern „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung”. Es gibt keinen Arbeitsvertrag. Es gibt keine Arbeitnehmerrechte aus Tarifvertrag, Betriebsverfassung oder Personalvertretungsrecht.
Das Geld, was die Arbeitenden da bekommen, ist auch kein Lohn, kein Arbeitsentgelt. Sie sind verpflichtet zu arbeiten, nur um das ALG II zu bekommen. Und der eine Euro – maximal ein Euro fünfzig – ist erst Recht kein Lohn. Der soll die Kosten abdecken, die dem Arbeitenden dadurch entstehen, dass er arbeitet (Fahrtkosten, Kleidung). Denn die kann er ja nicht aus dem Regelsatz bestreiten Wer einen weiten Weg zur Arbeit hat oder dabei seine Kleidung stark verschleißt, der kann leicht trotz Arbeit am Ende mit noch weniger dastehen als ALG II.
Deshalb sind alle Rechnungen abwegig, die das ALG II (einschließlich Wohnkosten) mit der Mehraufwandentschädigung für 40 Wochenstunden zusammenzählen, um zu suggerieren, dass „Ein-Euro-Jobs” doch im Vergleich zur Floristin sehr lukrativ bezahlt seien.
Bisher kannte man solche „Arbeitsgelegenheiten” in Deutschland nur aus der Sozialhilfe (§§ 19, 20 BSHG), dort eingeführt im Zuge einer repressiv-armenpolizeilichen Fortentwicklung des Sozialhilferechts. Dafür wurde Deutschland in den 90er Jahren schon einmal von der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen kritisiert, weil die da einen Verstoß gegen das ILO-Übereinkommen zum Schutz vor Zwangs- und Pflichtarbeit (1949) vermutete.
Wer eine angebotene Ein-Euro-Pflichtarbeit ablehnt, wird drei Monate lang mit 30 Prozent Kürzung beim ALG II bestraft. Bei den 15 bis 25 Jährigen Frauen und Männern wird bei Ablehnung das Bargeld komplett gestrichen. Dann sollen Gutscheine oder Sachleistungen erbracht werden, wie man das bisher nur aus dem Asylbewerber-Leistungsrecht kennt.
Da könnte ein gewisses Spannungsverhältnis zum Grundrecht auf Berufswahlfreiheit und zum verfassungsrechtlichen Verbot von Zwangsarbeit - Artikel 12 GG – schwer zu bestreiten sein, um das mal sehr zurückhaltend auszudrücken.
Für die Jüngeren bis 25 Jahren hat die Bundesagentur übrigens eine Vermittlungspflicht (§ 3 SGB II). Die sind unmittelbar nach Antragstellung auf Leistungen in eine Arbeit, eine Ausbildung oder eine Arbeitsgelegenheit zu vermitteln.
Nun kann die Bundesagentur das Angebot an entsprechenden Arbeits- und Ausbildungsplätzen von sich aus kaum vermehren. Die Mittel für ABM und für Umschulungen mit Berufsabschluss wurden ihr erheblich gekürzt. Am ehesten noch kann sie das Angebot bei Ein-Euro-Pflichtarbeitsgelegenheiten erhöhen.
750.000 davon hat die Bundesagentur für nächstes Jahr angekündigt. Die Gewerkschaft ver.di schätzt, dass es real 250.000 werden. Die Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für Arbeit will noch bis Ende des Jahres im Vorgriff auf das SGB II 32.000 davon einrichten; davon 10.000 für die Jüngeren, das heißt für die Hälfte aller Langzeitarbeitslosen unter 25 im Lande.
Gemeinnützig und zusätzlich sollen die Arbeitsgelegenheiten sein. Sie finden nicht in der Privatwirtschaft statt, sondern bei öffentlichen (Kommunen) und frei-gemeinnützigen Trägern (Wohlfahrtsverbände) in bestimmten Tätigkeitsbereichen. Die unter 25 Jährigen sollen gezielt in solchen Bereichen eingesetzt werden, wo der Rückgang der Zivildienstleistenden zunehmende Lücken reißt. Also etwa im Pflegebereich und in der Kinderbetreuung – wo seit vielen Jahren herber Mangel herrscht, weil die zuständigen Kostenträger kein Geld haben, um dafür reguläre Kräfte zu beschäftigen.
Viele Fachleute machen sich ernste Sorgen über die Qualität von personenbezogenen Dienstleistungen, wenn dafür Pflichtarbeiterinnen eingesetzt werden, die das unfreiwillig machen. Die Wohlfahrtsverbände wollen deshalb unter anderem darauf achten, dass da nur Leute eingesetzt werden, die das freiwillig machen.
Allerdings fragt sich, wie Freiwilligkeit festgestellt werden soll, wenn auch bei denen, die sich erklärt freiwillig zur Fahne melden, immer auch vermutet werden kann, dass damit nur ausgeprägte Mitwirkungsbereitschaft demonstriert und maximaler Abstand zu den Leistungskürzungen hergestellt werden soll. Was heißt „freiwillig” bei Angeboten, die man nicht ablehnen kann?
Besonders schön im Sinne sozialpolitischer Modernisierung fand ich auch das Einsatzfeld, das im Konzept der Regionaldirektion wörtlich beschrieben ist mit „Betrieb von Armenküchen für breite Bevölkerungskreise”.
Heute liegt zwischen der Zahl der offenen Stellen und der Zahl der registrierten Erwerbslosen etwa der Faktor 15, d.h. wir haben 15mal so viele registrierte Erwerbslose wie offene Stellen. Angesichts dieses gigantischen Angebotsdefizits an Arbeitsplätzen erscheint der Versuch, mit den Hartz-Gesetzen einen deutlichen Abbau der Erwerbslosigkeit zu erreichen, auf den ersten Blick vollständig absurd. Denn Beschleunigung der Vermittlung und „Aktivierung” zur Arbeitsaufnahme müssen ja ins Leere laufen, so lange es keine Arbeitsplätze zu vermitteln gibt.
Nun gibt es bekanntlich den Strang der Arbeitsmarktreformen, den man die Bekämpfung der Arbeitslosenstatistik nennen könnte. Alle Teilnehmerinnen von Arbeitsfördermaßnahmen, von der Trainingsmaßnahme bis zur Umschulung, alle geringfügig Beschäftigten mit mehr als 15 Wochenstunden, alle Ein-Euro-Job-Beschäftigten und alle Älteren, die trotz der Rentenabschläge in den vorgezogenen Rentenbezug gehen wollen, zählen nicht mehr als arbeitslos. Aber das allein ist es nicht.
Das Hartz-Konzept folgt vielmehr einer grundlegenden These der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Die besagt etwa, dass die gesamtwirtschaftliche Arbeitskräftenachfrage deshalb so schwach sei, weil die Preise für die Arbeitskräfte in Folge der sozialen Regulierungen des Arbeitsmarkts zu hoch seien. Dieser These zur Folge soll der Angebotsüberhang an Arbeitskräften dadurch drastisch reduziert werden können, dass sich durch die Wirkung der Marktkräfte am Arbeitsmarkt „markträumende Preise” durchsetzen können. Mit anderen Worten: Die Diagnose ist, dass die Löhne und Gehälter zu hoch sind. Und die Therapie heißt – nicht anders als auf normalen Gütermärkten auch – dass man die Nachfrage durch Preissenkung stimulieren muss – also durch Lohnsenkung.
Wenn man diesen ideologischen Hintergrund kennt, dann ist schon klar, dass die Hartz-Gesetze keineswegs nur auf die Erwerbslosen zielen. Sie zielen vielmehr auf die Gesamtheit aller Lohnabhängigen, auf ihr Entgeltniveau.
Geht es bei den Reformen in der Sozialversicherung immer um die Senkung der so genannten Lohnnebenkosten, also des „indirekten” Lohns in Gestalt der Sozialversicherungsbeiträge, mit denen die Beschäftigten Anspruch auf bestimmte Qualitäten sozialer Sicherung erwerben, zielt die Hartz-Gesetzgebung auf den Barlohn. Sie ergänzt damit die in die gleiche Richtung zielenden Anstrengungen der Arbeitgeber auf den Gebieten der Tarifpolitik und der betrieblichen Standortsicherungsbündnisse – also beispielsweise 40 Stunden und mehr arbeiten fürs Geld für 35.
Die Botschaft von Hartz IV an die Gesamtheit der Lohnabhängigen lässt sich vielleicht so zusammenfassen:
Egal, was du gelernt hast, egal, was du zuvor verdient hast, egal, wie lange Du in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hast, nach 12 Monaten Erwerbslosigkeit (bei Älteren nach 18 Monaten) hast du mitsamt deiner Familie nur noch Anspruch auf ein Leben in Armut;
dies aber auch nur dann, wenn Du Dein Leben unter die Vormundschaft der Eingliederungsvereinbarung stellst und bereit bist, auch die schlechteste legale Arbeit anzunehmen; selbst wenn es sich um entrechtete Pflichtarbeit handelt.”

Diese Botschaft lässt Auswirkungen noch anderer Art auf die Erwerbsgesellschaft erwarten: Je tiefer sich vor den Beschäftigten der Abgrund der Erwerbslosigkeit mit den Mühlen des „Förderns und Forderns” öffnet, umso mehr nimmt erfahrungsgemäß ihre Bereitschaft ab, zur Verteidigung eigener Rechte aus Tarifvertrag oder Betriebsverfassung etwas zu riskieren. Kaum eine Zumutung des Arbeitgebers, der man sich nicht beugen mag, wenn die Alternative mit erhöhtem Risiko behaftet scheint, in diesen Abgrund gestürzt zu werden. Der wachsende Schrecken vor dem Risiko, erwerbslos zu werden, diszipliniert enorm und erhöht die Erpressbarkeit ganzer Belegschaften. Hauptsache den Job behalten.
Die Drohungen, mit denen Belegschaften in betrieblichen Bündnissen für Arbeit oder zur Standortsicherung zum Verzicht auf tarifliche Leistungen und Rechte genötigt werden, dürften mit Hartz IV noch deutlich an Wirksamkeit gewinnen. Da der Einfluss der Gewerkschaften unmittelbar an ihrer Fähigkeit zur Mobilisierung ihrer Mitglieder gegen Begehrlichkeiten der Arbeitgeber hängt, dürfte es für sie noch schwieriger werden, ihre Schutzfunktion auszufüllen.
Mit der vermehrten Ausbreitung von Untertanengeist unter den Beschäftigten bei um sich greifenden Zukunftsängsten droht sich das gesellschaftliche Klima in eine Richtung zu entwickeln, die leicht Demokratie gefährdend werden kann. Man fühlt sich unwillkürlich erinnert an die späte Weimarer Zeit, deren historische Lehren hier gerade großflächig entsorgt werden.
Seit Anfang der 90er Jahre treiben die Reformen im vereinigten Deutschland eine Entwicklung voran, die mit dem alten Begriff „Sozialabbau” nur unzureichend beschrieben ist.
Wir erleben einen regelrechten Systemwechsel weg vom Sozialstaat des „rheinischen Kapitalismus”, hin zum neoliberal inspirierten „Wettbewerbsstaat” des Aktionärskapitalismus, der einseitig den Interessen der Unternehmen und der wirtschaftlich Starken verpflichtet ist, vor allem den großen Konzernen, den Banken und der Versicherungswirtschaft. Dieser Systemwechsel drückt sich auch im fundamentalen Funktionswandel von Arbeitslosenversicherung und staatlicher Arbeitsmarktpolitik aus.
Sozialstaatliche Arbeitslosenversicherung und Arbeitsmarktpolitik hatten nicht zuletzt die Funktion, zur Sicherung einer sozial regulierten Erwerbsgesellschaft beizutragen, in der Arbeitskräfte auch BürgerInnen, Menschen sind und nicht nur Waren. Angemessene Lohnersatzleistungen bei Erwerbslosigkeit und eine am tariflich und sozial regulierten Normalarbeitsverhältnis ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik sollten verhindern, dass Arbeitgeber die Notlage Erwerbsloser ausnutzen, um Verschlechterungen der Arbeits- und Entgeltbedingungen durchzusetzen.
Die Hartz-Gesetze sollen demgegenüber genau umgekehrt die sozialen Regulierungen der Erwerbsgesellschaft aufbrechen und den Warencharakter der Arbeitskraft wieder hervortreten lassen („markträumende Preise”). Es geht nicht mehr um Unterstützung und Hilfe für Erwerbssuchende, sondern um Unterstützung und Hilfe für die Kapitalseite, für die billigere und willigere Arbeitskräfte bereitgestellt werden sollen. Die Arbeitsverwaltung als Träger unserer Arbeitslosenversicherung, hat sozusagen „die Seiten gewechselt” - ein Prozess, der bereits Mitte der 90er Jahre von der Kohl-Regierung eingeleitet wurde, der aber mit Hartz vollendet wird und der seinen passenden administrativen Ausdruck darin findet, dass die Zuständigkeit vom Sozialministerium ins Wirtschaftsministerium übergegangen ist.
Die Spannungsverhältnisse zwischen Hartz und Grundgesetznormen erschöpfen sich nicht allein in den erwähnten Themen Berufswahlfreiheit und Schutz der Menschenwürde. Das betrifft ähnlich etwa auch
  • das Grundrecht auf Vertragsfreiheit und die sanktionsbewehrte Verpflichtung zum Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung;
  • das Grundrecht auf Freizügigkeit, also auf freie Wahl des Wohn- und Lebensortes, und die Verpflichtung zur bundesweiten Vermittelbarkeit (Hartz I);

Das ist eine Entwicklung, in der man sich ernsthaft fragen kann, ob nicht Art. 20 Absatz 4 GG berührt ist. Der sichert nämlich das Recht auf Widerstand gegen jeden, der es unternimmt die sozialstaatliche Ordnung zu beseitigen, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Die Strategie der markträumenden Preise für Arbeitskräfte mag alles Mögliche bewirken, aber eines wird sie mit Sicherheit nicht können: zu einem Zuwachs an regulären Arbeitsplätzen beitragen. Richtig ist eher das Gegenteil: Namhafte Ökonomen haben rund 100.000 zusätzliche Erwerbslose durch Hartz IV prognostiziert.
Warum? Weil die Kaufkraftverluste durch Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und Niedriglohnstrategie die notorische Schwäche der Binnennachfrage als langjähriges Konjunkturproblem Nummer eins vertiefen. Wenn aber die Nachfrage nach zusätzlichen Produkten und Dienstleistungen fehlt und gar zurück geht, würde der Arbeitgeber, der trotzdem zusätzliche Arbeitskräfte einstellt, nur weil sie billig sind, betriebswirtschaftlich irrational handeln. Betriebswirtschaftlich rational – erst Recht im Zeichen des Aktionärskapitalismus – ist dagegen, sich neu eröffnende Möglichkeiten der Kostensenkung zu nutzen, und sei es durch die Ersetzung regulär Beschäftigter durch Niedriglohnbeschäftigte.
Zum Schluss noch ein paar Hinweise auf Alternativen zu Hartz und zu rationalen strategischen Ansätzen zum Abbau der Massenerwerbslosigkeit.
Dazu vorweg eine Bemerkung allgemeiner Art: Es wirkt ungemein befreiend, wenn man verstehen kann, dass wir in Deutschland in der Wirtschaft und in den Sozialsystemen letztlich keine Probleme ruinöser Kostenentwicklungen haben. Weder bei den Arbeitskosten, noch bei den Sozialkosten – und auch nicht wegen der demografischen Entwicklung.
Das redet man uns ein, um nicht zugeben zu müssen, dass es bei den heutigen Reformen im Kern immer nur um eines geht, nämlich um Umverteilung – um Umverteilung zugunsten der wirtschaftlich Starken. Das ist bei Hartz nicht anders als bei den übrigen Teilen der Agenda 2010. Bei Hartz IV wird das besonders offensichtlich, weil die 2,5 Milliarden, die bei den Erwerbslosen eingespart werden sollen, direkt ab Januar in die Senkung des Spitzensteuersatzes umgeleitet werden. Die kostet auch 2,5 Milliarden. Wer 30.000 Euro im Jahr verdient, wird dadurch um 0,5 Prozent oder 153 Euro entlastet, der Einkommensmillionär aber um 2,9 Prozent oder fast 30.000 Euro.
Unsere Probleme beim Wachstum, am Arbeitsmarkt, in den öffentlichen Kassen und in den Sozialkassen sind maßgeblich Folge der seit Jahrzehnten anhaltenden Umverteilung von unten nach oben, die schon einen großen Teil unseres enormen gesellschaftlichen Reichtums dem Nutzen der Allgemeinheit entzogen und in den Händen weniger privatisiert hat.
Die Geldvermögen der privaten Haushalte sind zu über einem Drittel bei den obersten 10 Prozent und zu einem Viertel bei dem obersten halben Prozent konzentriert. Sie liegen heute bei rund 4 Billionen Euro (4.000 Milliarden). In den 90er Jahren sind sie im Jahresdurchschnitt um etwa das 15fache der Sozialhilfeausgaben zum Lebensunterhalt gewachsen.
Der Chef der Deutschen Bank, der Herr Ackermann, hat ein effektiven Jahreseinkommen aus seiner Tätigkeit bei der Bank von über 11 Millionen Euro. 1990 war bei der durchschnittliche Vorstandsbezug bei Deutschen Bank 32 mal so hoch wie ein durchschnittlicher Arbeitnehmerverdienst. Faktor 32 war schon damals keine Kleinigkeit. 2003 aber hatten wir es da mit dem Faktor 240 zu tun.
Das sind natürlich alles nur Schlaglichter auf eine Entwicklung, für die der Ausdruck „verteilungspolitische Schieflage” schon eher eine Beschönigung ist.
Ein ganz zentraler Aspekt des Verteilungsproblems ist die falsche, zunehmend ungleiche Verteilung der Erwerbsarbeit, wo immer mehr Menschen auf Null Stunden gesetzt werden, damit die anderen immer länger arbeiten müssen.
Der Leitgedanke sozialer Reformalternativen liegt darin, die Richtung der Umverteilung wieder in Einklang zu bringen mit sozialstaatlichen Grundsätzen, insbesondere mit dem Verfassungsgrundsatz von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums.
  • Eine Bewältigung der Wachstumsschwäche wird nur möglich sein mit einer durchgreifenden Stärkung der Binnennachfrage.

Bei der privaten Binnennachfrage muss dazu das Volumen der Sozialleistungen und der Löhne und Gehälter – insbesondere solcher, die vorrangig in den Konsum statt in die Vermögensbildung gehen – steigen und nicht sinken. Bei der öffentlichen Nachfrage – vor allem bei Investitionen in Bildung und in die öffentlichen und sozialen Infrastrukturen - muss das Steueraufkommen nicht sinken, sondern steigen - zu Lasten derer, die dazu nur eine Verlangsamung der Vermögensbildung hinnehmen müssten.
  • Eine Bewältigung der Massenerwerbslosigkeit wird nur möglich sein mit Umverteilung der Erwerbsarbeit durch Arbeitszeitverkürzungen bei auskömmlichen Einkommen.

Dass Arbeitszeitpolitik hier ein zentrales Instrument ist, meint übrigens auch unsere Landesregierung – wenn auch andersrum. Sie hat ihren Beschluss, die Arbeitszeit im Öffentlichen Dienst auf 42 Wochenstunden zu verlängern, damit begründet, dass dann 11.300 Stellen gestrichen werden können. Es ist klar: wenn man mit Arbeitszeitverlängerung Arbeitsplätze abbauen kann, dann kann man selbstverständlich auch mit Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze aufbauen.
Wichtige Potenziale für zusätzliche Beschäftigung liegen in den Bereichen Bildung, Erziehung, und Pflege brach. Das ist eine wesentliche Ursache dafür, dass wir da teils dramatische Probleme mit der Leistungsqualität haben. Und wenn wir den vielbeschworenen wirtschaftlichen Strukturwandel zu ökologischer Nachhaltigkeit schaffen wollen, dann brauchen wir auch dafür systematische und massive Investitionen, die neue Beschäftigung bringen.
Damit die öffentlichen Haushalte und die Sozialleistungsträger solchen Erfordernissen im Interesse der Allgemeinheit nachkommen können, muss über Steuern und Abgaben zusätzliches Geld mobilisiert werden bei denen, die es haben.
  • Eine Bewältigung des zunehmenden working poor-Problems, der prekären Unterbeschäftigung, und auch Geschlechtergerechtigkeit in der Erwerbsgesellschaft wird nur möglich sein mit einer sozialen Neuregulierung der Erwerbsarbeit.

Erwerbsarbeit muss so organisiert sein, dass man davon anständig leben kann und dass sie regelmäßig für beide Geschlechter mit den Erfordernissen des Lebens mit Kindern und Pflegebedürftigen vereinbar ist. Und nicht nur dann, wenn sich die Mütter unter Preisgabe ihres Anspruchs auf materielle Eigenständigkeit in prekäre Sonderarbeitsverhältnisse entsorgen lassen.
Soziale Gerechtigkeit, auch Chancengerechtigkeit, ist in der Marktgesellschaft nur möglich auf der Grundlage von Verteilungsgerechtigkeit. Der Sozialstaat ist nicht das Problem, er wäre vielmehr der Schlüssel zur Lösung.
Aber diese Lösung wird auf Dauer nur funktionieren in europäischer Perspektive, was ja umgekehrt für die neoliberale Revolution von oben genauso gilt.
Warum stößt man mit solchen Thesen meist auf ungläubige Gesichter? Weil wir heute in unseren Parlamenten keine Kräfte mehr vorfinden, von denen wir mit Aussicht auf Erfolg erwarten könnten, dass sie einen solchen Richtungswechsel für Sozialstaat und soziale Gerechtigkeit durchsetzen.
Für dieses strategische Problem gibt's nach meiner Wahrnehmung auch keine einfachen Lösungen, indem man jetzt etwa eine neue Partei ausruft. Wir sind auf absehbare Zeit auf uns selbst verwiesen. Auf soziale Bewegungen, die wir so stark machen, dass die Politik nicht mehr über sie hinweg regieren kann. Auf soziale Bewegungen, die sich in europäischen Netzwerken zusammenfinden, für die das Europäische Sozialforum ein ganz wichtiger Ansatz ist. Solche Bewegungen werden nur dann die notwendige Stärke entwickeln, wenn sie die Leute zusammen bringen über die Grenzen von Parteizugehörigkeiten, Organisationstraditionen und politischen Kulturen hinweg.
Das ist, das gebe ich gern zu, eine ziemlich unbequeme Perspektive, weil man da selber aktiv werden muss, statt das ganze Thema an andere delegieren zu können, die's dann schon richten. Es liegt jetzt an uns, an der Zivilgesellschaft, was wir draus machen.
Daniel Kreutz
23. November 2004

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