Aktuelles Archiv
Ein menschenwürdiges Leben für alle — kommt nicht von allein
von Michael Bättig
„Ein menschenwürdiges Leben für alle – Das Existenzminimum muss dringend angehoben werden” – das forderten am 6. Dezember auf einer Pressekonferenz in Berlin zwanzig Organisationen gemeinsam und legten dazu ein Positionspapier ( ) vor, in dem die aktuellen Regelsätze kritisch analysiert und Schlussfolgerungen für eine Neubestimmung des soziokulturellen Existenzminimums gezogen werden.
Erwerbsloseninitiativen aus dem Bündnis „Krach schlagen statt Kohldampf schieben” haben dieses Projekt ins Leben gerufen, nachdem das Bundesverfassungsgericht im Februar 2010 die Hartz-IV-Regelsätze als menschenunwürdig beurteilt und von der Politik eine gesetzliche Neuregelung des soziokulturellen Existenzminimums gefordert hatte.
Zahlreiche Verbände und Organisationen forderten eine Erhöhung der Regelsätze auf deutlich über 400 Euro, und viele Stellungnahmen waren sich einig in der Kritik an der erneuten Willkür in den Berechnungen der Bundesregierung. Aber es gab keine gemeinsamen Forderungen und kein geschlossenes Auftreten. Ganze fünf Euro mehr im Monat waren schließlich das Ergebnis der Neubestimmung durch das „Regelbedarfsermittlungsgesetz” im April 2011 – ein Schlag ins Gesicht aller Betroffenen.
Wohl zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland stellen nun Erwerbslose gemeinsam mit Flüchtlingsinitiativen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Sozialverbänden, Bauern- und Umweltverbänden Forderungen für ein menschenwürdiges Existenzminimum.
Anmerkungen zur möglichen Bedeutung des Update-Papiers
Gesellschaftliche Verortung und drei zentrale Fragen
Im Positionspapier stehen nicht die Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, „500 Euro Regelsatz”, „Weg mit Hartz IV” oder „Vollständige Abschaffung aller Sanktionen”. Die Verbreitung und gesellschaftliche Aufnahme dieser Forderungen stockt irgendwie. Wenn wir aber nicht unter uns und damit ohne Chance auf ihre Durchsetzung bleiben wollen, müssen wir die Gründe für unsere Isolation analysieren und neue Schritte entwickeln.
Die Gesellschaft spaltet sich. Noch gehört eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu den europäischen Krisengewinnern und verfügt über wachsende Einkommen, während die Zahl der in Armut oder an der Armutsgrenze lebenden und unter prekären Bedingungen arbeitenden Menschen zunimmt. Arbeit und Einkommen entscheiden scheinbar individuell über die gesellschaftliche Stellung, und wachsende Arbeitsverdichtung, Verunsicherung und fehlende Alternativen setzen Mittelschichten und selbst Geringverdiener unter Druck, sich voll reinzuhängen, alles mitzutragen und eher nach unten abzugrenzen, als an einer solidarischen Abwehrlinie zu arbeiten.
Allein darauf zu setzen, dass weitere Verelendungsprozesse, die vielleicht bald auch die aktuell noch wachsenden Ökonomien der nordeuropäischen Länder erreichen, zu solidarischen Widerstandsbewegungen führen, hat sich in der Vergangenheit oft als fataler Irrtum erwiesen. Neonazis in Griechenland, mafiose Kriminalisierung und der Countereinsatz von Drogen in Armutsregionen sprechen auch aktuell dagegen.
Die Kunst bestände also darin, die gemeinsamen und gesellschaftlichen Interessen zu finden und zu formulieren, in denen unsere unmittelbaren Interessen nach materiellen Verbesserungen und gesellschaftlicher Teilhabe aufgehen, und ihre wechselseitige Abhängigkeit voneinander zu zeigen.
Selbst wenn die Erwerbslosenbewegung momentan zu radikalen und spektakulären Aktionen in der Lage wäre, müssten wir nach der gesellschaftlichen Verallgemeinerungsfähigkeit unserer eigenen Forderungen fragen. Wir haben weder die Marktmacht von Lokführern, noch von Piloten, Fluglotsen oder Ärzten – und auch die sollten sich diese Frage stellen!
Das Positionspapier kann für die Erwerbsloseninitiativen ein Schritt aus der gesellschaftlichen Isolation bedeuten, wenn wir es schaffen, daraus zusammen mit anderen ein neues gesamtgesellschaftliches Projekt zu entwickeln – es kann aber auch einfach bedeutungslos bleiben und uns in einen belanglosen Diskurs großer Verbände hineinsaugen.
Eine gesellschaftliche Diskussion über die Bedeutung des soziokulturellen Existenzminimums neu in Gang zu bringen und dabei die unseres Erachtens zentralen Fragen der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung neu zu stellen, ist eine Form des Eingreifens. Sie entbindet uns jedoch nicht von der Notwendigkeit, wieder eine gemeinsame und radikalere Alltagspraxis zu entwickeln, um uns gegen weitere Verarmung, Ausgrenzung und die tägliche entwürdigende Behandlung in den Ämtern zu wehren. Aber auch dafür werden wir neue Bündnispartner brauchen.
1. Die Höhe des soziokulturellen Existenzminimums
Das Recht auf ein soziokulturelles Existenzminimum und seine Höhe hängen vom historisch erreichten Stand der Produktion und Form des gesellschaftlichen Reichtums ab und sind Ergebnis der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um seine Verteilung. Es gibt aktuell wohl genau so viele voneinander abweichende Ergebnisse wie Einrichtungen, die sie berechnen.
Wer argumentiert wie Kritiker des Positionspapiers, das Existenzminimum sei gesellschaftlich bestimmt, die Höhe des Existenzminimums ergebe sich also aus dem tatsächlichen gesellschaftlichen Existenzminimum und könne durch die Sozialgesetzgebung weder erhöht noch gekürzt werden, ist keinen Schritt weiter: Auch die Höhe dieses tatsächlichen gesellschaftlichen Existenzminimums muss irgendwie ermittelt und begründet werden, wie im übrigen die Zusammensetzung und Bewertung eines Warenkorbs auch. (Wenn man die Höhe festlegt, ohne darüber zu diskutieren, handelt man so willkürlich und machtpolitisch wie die Bundesregierung.) Solange wir also nicht „die Macht haben” und hoffentlich in dieser Form auch nicht haben wollen, müssen wir auf die Überzeugungskraft unserer besseren Argumente und Aktionen setzen.
Im Positionspapier wird zum einen neben dem willkürlichen Umgang mit den gewonnenen Daten die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) als Datengrundlage grundsätzlich kritisiert, weil sie den bereits weit vorangeschrittenen gesellschaftlichen Verarmungs- und Ausgrenzungsprozess zum Zeitpunkt der Datenerhebung nur abbilden und fortschreiben kann, statt ihn kritisch zu hinterfragen. Deshalb werden ergänzende Untersuchungen und realitätsgerechte Bedarfsermittlungen gefordert, die durch eine unabhängige Kommission unter Beteiligung von Betroffenen ausgewertet werden sollen. Zum anderen beziffert das Papier die Dimension des Mangels, die sich bereits aus der kritischen Analyse der vorhandenen Daten ergibt, mit einem aktuellen Fehlbetrag von 150 bis 170 Euro pro Monat.
Ob das Statistikmodell auf Basis der EVS, ob ein Warenkorbmodell oder bestimmte Mischformen zur Berechnung des soziokulturellen Existenzminimums herangezogen werden: Alle nachvollziehbaren und transparenten Untersuchungen belegen, dass für ein menschenwürdiges Leben ohne gesellschaftliche Ausgrenzung ein wesentlich höherer Regelsatz erforderlich ist.
Aber selbst wenn dieses Ergebnis wissenschaftlich und moralisch plausibel, nachvollziehbar und überzeugend ist, heißt das noch lange nicht, dass es auch gesellschaftlich akzeptiert wird. Es nutzt wenig, eine Forderung nach soundsoviel mehr Geld aufzustellen, solange nicht relevante gesellschaftliche Gruppen sowie größere Teile der Bevölkerung einsehen, dass dies in ihrem und im allgemeinen Interesse ist.
2. Das gesellschaftliche Verhältnis von Arbeit und Einkommen
Die gesellschaftliche Akzeptanz eines ausreichenden menschenwürdigen Existenzminimums hängt wesentlich von der Form der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit und Einkommen ab. Vereinfacht ausgedrückt geistert seit geraumer Zeit die Frage durch die Gesellschaft, ob es ein garantiertes Einkommen für jeden Menschen geben soll, das nicht an Erwerbsarbeit gekoppelt ist.
Die bisherigen Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld, Rente, Pflege- und Gesundheitsleistungen werden ausgehöhlt, weil sie an ein Modell der männlichen Vollzeit-Erwerbsarbeit gebunden sind, das in der realen Welt langsam verschwindet und das auf der unbezahlten Reproduktionsarbeit der Frauen basiert. In dem Maße jedoch, wie klar wird, dass der Reichtum unserer Gesellschaft nicht allein über Erwerbsarbeit, in Fabriken und auf Äckern erwirtschaftet wird, sondern ein Ergebnis gesamtgesellschaftlicher Kooperation aller in allen Bereichen ist, muss der Vorrang der Erwerbsarbeit und der individuellen Verantwortung ideologisch und praktisch vorangetrieben werden.
Denn die Menschen begeben sich viel bereitwilliger und nicht selten mit dem Gefühl vermeintlicher Freiheit in die neue Arbeitswelt der eigenverantwortlichen Vorsorge, Flexibilität, Arbeitsverdichtung und Rund-um-die-Uhr-Selbstausbeutung, wenn die öffentliche Vorsorge zusammengestrichen und privatisiert wird und ein Heer von Hartz-IV-Billiglöhnern und Leiharbeitern Tag und Nacht bereit steht, um schnell einzuspringen, wenn jemand schwächelt.
Je klarer also durch die gesamtgesellschaftliche Kooperation das Grundrecht eines jeden Menschen auf seinen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum wird, desto verbissener wird die Koppelung jedes Einkommens an die Erwerbsarbeit verteidigt – wer nicht erwerbsmäßig arbeitet, darf nicht so viel erhalten wie derjenige, der erwerbsmäßig arbeitet. Dieses subjektiv wie objektiv vorherrschende kapitalistische Tabu gilt es ersteinmal aufzubrechen.
Im Update-Papier ( ) wird die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz als ein grundlegendes Verfassungsrecht bezeichnet, als Mindestanspruch für alle – egal, ob sie gerade über Erwerbseinkommen verfügen können oder nicht. Grundrechte müssen nicht „verdient” werden. Sie gelten uneingeschränkt für alle hier lebenden Menschen. Die Gesellschaft sollte ihren Mitgliedern für die verschiedenen Phasen des Lebens durch eine ausreichende sozialstaatliche Existenzsicherung, einen existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohn und den verschiedenen Lebensphasen angemessene Erwerbsarbeitszeiten mehr Entscheidungsfreiheit und eine sichere Perspektive ohne Angst vor Einkommensarmut und Ausgrenzung ermöglichen.
Dass auch in den Gewerkschaften neu über das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Einkommen nachgedacht wird, zeigen die Unterstützung des Positionspapiers und dass die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn nicht mehr gegen die Forderung nach einer Erhöhung der Regelsätze ausgespielt wird, sondern diese beiden Forderungen als das begriffen werden, was sie sind: zwei Seiten derselben Medaille.
Ein deutlich höheres Grundsicherungsniveau kommt also nicht nur Menschen mit „Hartz IV” und Geringverdienenden zugute, sondern auch allen Erwerbsabhängigen und allen, deren Einkommen von der Regelsatzhöhe abgeleitet oder beeinflusst wird. Ein ausreichendes Existenzminimum würde die Angst in den Betrieben vor sozialem Abstieg bei Arbeitsplatzverlust und die daraus resultierende „Erpressbarkeit” abmildern.
3. Das Verhältnis von Ökonomie, Ökologie und Commons
Handelsunternehmen, Banken und Versicherungen zählen heute zum Teil schon vor den traditionellen Produktions-Unternehmen der Auto-, Öl-, Chemie- und Elektroindustrie zu den größten Konzernen der Welt. Handelskapitalriesen wie Walmart bestimmen, welche Waren weltweit wo produziert und zu welchem Preis verkauft werden. Lebensmitteldiscounter verzeichnen wachsende Marktanteile. Sie verdrängen kleine Läden, führen zum Abbau von Arbeitsplätzen weltweit, zur Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und zur Senkung der Lohnkosten in Produktion, Handel und Verkauf.
Aber die kapitalistische Produktionsweise stößt mit ihrem unendlichen Zwang zu Wachstum und Ausdehnung von Absatzmärkten nicht nur an die Grenze endlicher fossiler Brennstoffe, sondern auch die einer irreparablen Zerstörung ihrer natürlichen Grundlagen.
ie zunehmende Industrialisierung der landwirtschaftlichen Produktion führt nicht mehr zu einer Beschleunigung des Produktivitätszuwachses – immer mehr Input (Energie) ist notwendig, um den gleichen Zuwachs an Output zu erreichen. Es gibt zunehmende Probleme mit den ökologischen Folgen von Monokulturen, Massentierhaltung und Fleischproduktion: resistente Schädlinge, Bodenerosion als Folge von Überdüngung und Rodung, zerstörerische Extremwetterereignisse und Missernten, steigende Lebensmittelpreise infolge der Bioenergieproduktion und Ölpreisentwicklung.
2010 wurden in Deutschland acht Millionen Tonnen Fleisch geschlachtet, mehr als je zuvor. 40 Prozent des Fleisches wurde exportiert, zu seiner Produktion wurden 50 Prozent der Mastkost importiert. Weltweit dienen knapp die Hälfte der globalen Getreideernte und 80 Prozent der Sojaproduktion der Tiermast.
In Schlachthöfen wird mit einem Umsatz pro Mitarbeiter von 300.000 bis 500.000 Euro eine höhere Produktivität als in der Autoindustrie geplant. Der erst in Teilen gebaute Schlachthof bei Wietze in Niedersachsen ist im Endstadium auf das Schlachten von bis zu 130 Mio. Tieren täglich ausgelegt. Um ihn herum sollen dafür 450 Mastställe für jeweils 40.000 Hühner entstehen.
Dass vor diesem Hintergrund Lohnforderungen und ökonomische Arbeitskämpfe an Bedeutung verlieren und gesellschaftliche Bewegungen gesunde Lebensmittel, fairen Handel, Demokratisierung und den Schutz und Erhalt von Umwelt und Tieren fordern, mögen traditionelle Linke bedauern. Aber indem nicht nur um materielle Anteile am wachsenden Reichtum gekämpft wird, rückt die Art und Weise der Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zunehmend ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit. Commons, Gemeingüter oder öffentliche Infrastruktur als bedingungsloses Grundeinkommen, kostenloser und gleicher Zugang zu Gesundheit, Bildung, Wohnraum, Mobilität und Kommunikation sowie ein neues Verhältnis zur Natur, unabhängig vom kapitalistischen Verwertungs- und Wachstumszwang, erscheinen dabei als eine neue gemeinsame Utopie. Sie ist eine Chance, unsere Geldforderungen, die immer irgendwie an das kapitalistische Wachstumsmodell gebunden erscheinen, in einen weiter gefassten Zusammenhang zu stellen.
Im Positionspapier gibt es an mehreren Stellen entsprechende Ausführungen zum Zusammenhang von sozialer und ökologischer Frage, und der letzte Absatz im Papier lautet:
„Unser Ziel ist eine realitätsgerechte Korrektur der Existenzsicherung zu erreichen und für alle die materiellen Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens zu schaffen. Dabei wollen wir nicht nur über Geld reden, sondern auch über notwendige Verbesserungen der öffentlichen Infrastruktur, die uns einer sozial gerechten, fairen und ökologischen Gesellschaft ohne Einkommensarmut und Ausgrenzung näher bringen. Dem Prozess der zunehmenden Verarmung und Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich wollen wir gemeinsam entgegentreten.”
Schlussfolgerungen
Wir haben in den Sondierungsgesprächen die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen wie Flüchtlingsvertreter, Bauern, Umweltschützer, Gewerkschafter und Sozialarbeiter an einen Tisch gebracht, die an den zentralen Fragen der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung wenn überhaupt bisher noch ziemlich getrennt voneinander arbeiten. Wir haben rund um die Bestimmung eines menschenwürdigen soziokulturellen Existenzminimums erste gemeinsame Positionen entwickelt, in denen die Fragen nach einer gerechten gesellschaftlichen Organisation und Verteilung von Arbeit und Einkommen und das Verhältnis von ökonomischer und ökologischer Entwicklung berücksichtigt werden.
Wie es weitergeht, wissen wir auch noch nicht so genau. Aber eins wissen wir schon: Den weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um ein menschenwürdiges Leben für alle können wir nur beeinflussen, wenn wir uns einmischen – einigermaßen geschlossen und ziemlich entschlossen.
Die Diskussion ist eröffnet.
Artikel aus der 4. Ausgabe der online Zeitschrift quer für Erwerbslose und alle anderen