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Bundesregierung will EU-Bürger*innen aushungern



Im Bundestag wird  momentan das „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“ verhandelt. Die Bundesregierung plant, die Ausschlüsse von Leistungen der Existenzsicherung für wirtschaftlich nicht verwertbare  Unionsbürger*innen gegenüber der jetzigen Praxis deutlich auszuweiten.

Der Gesetzentwurf hat für eine bestimmte, rechtmäßig in Deutschland lebende Bevölkerungsgruppe in Deutschland ein Leben in Elend und Schutzlosigkeit zur Folge, da sich der Staat seiner grundlegendsten Fürsorgepflicht entledigt und stattdessen auf das Instrument des „Aushungerns“ setzt. Die Neue Richtervereinigung nennt den Gesetzentwurf in einer Stellungnahme daher nicht zu Unrecht „sozialrechtliche Apartheid“.

Es ist zu erwarten, dass das Gesetz in den kommenden Wochen in Kraft tritt.

 Wen betreffen die Leistungsausschlüsse?

 Dieser Leistungsausschluss betrifft insbesondere Unionsbürger*innen,

·         in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts, soweit sie nicht bereits Arbeitnehmer*innen oder deren Familienangehörige sind,

·         über kein (unionsrechtliches) Aufenthaltsrecht verfügen,

·         über ein Aufenthaltsrecht nur zum Zweck der Arbeitsuche verfügen,

·         nur über ein Aufenthaltsrecht als Kinder ehemaliger Arbeitnehmer*innen bis zum Abschluss einer Ausbildung verfügen. Dies bezieht sich auch auf die Elternteile, die die elterliche Sorge tatsächlich ausüben  (Aufenthaltsrecht aus Art. 10 VO 492/2011).

 „Überbrückungsleistungen“: Weniger als das physische Existenzminimum; max. für einen Monat

 Stattdessen wird ein Anspruch auf einmalige „Überbrückungsleistungen“ im System des SGB XII eingeführt, die zeitlich regelmäßig auf maximal einen Monat beschränkt sind und sogar das rein physische Existenzminimum deutlich unterschreiten. Diese Überbrückungsleistungen betragen rechnerisch gut 180 Euro in Regelbedarfsstufe 1 und damit weniger als die Hälfte des normalen Regelbedarfs. Das reguläre physische Existenzminimum in Regelbedarfsstufe 1 beläuft sich dagegen auf rund 280 Euro.

Teil der „Überbrückungsleistungen“ sind zudem Kosten für Unterkunft und Heizung sowie die Gesundheitsversorgung bei akuten oder schmerzhaften Erkrankungen, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft. Ausgeschlossen sind damit regelmäßig unter anderem Leistungen für: 

·         Kleidung

·         Hausrat, Haushaltsgegenstände

·         Strom

·         Bildungs- und Teilhabepaket

·         Behandlung chronischer Erkrankungen

·         das gesamte soziale Existenzminimum (Fahrtkosten, Telefonkosten usw.)

·         sämtliche sonstigen Leistungen des SGB XII (Hilfe zur Pflege, Eingliederungshilfe, Leistungen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten usw.).

 Nur soweit „dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern“ besteht „zur Überwindung einer besonderen Härte“ Anspruch auf diese und andere Leistungen des SGB II. Über den Zeitraum von einem Monat hinaus besteht nur dann Anspruch, „soweit dies im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist.“

 Zusätzlich besteht Anspruch auf darlehensweise Gewährung der Rückreisekosten.

 Gesetzliches Verbot der Leistungserbringung statt Ermessen

 Mit dieser Regelung plant die Bundesregierung jegliches Ermessen der Sozialämter auszuschließen und gleichsam ein gesetzliches Verbot der Leistungserbringung einzuführen. Auch bei einer beispielsweise bestehenden Reiseunfähigkeit dürfen die Überbrückungsleistungen keineswegs dauerhaft, sondern nur „zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage“ erbracht werden – falls indes von vornherein erkennbar ist, dass die Bedarfslage dauerhaft bestehen wird (weil die Reiseunfähigkeit aufgrund Krankheit oder Behinderung dauerhaft besteht), dürfen vom Wortlaut her keine Leistungen über einen Monat hinaus erbracht werden.

 Mit dieser Abkehr von Ermessensleistungen und gleichzeitig dem Verbot, Leistungen über einen bestimmten Zeitraum hinaus leisten zu dürfen, will die Bundesregierung die jüngste Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aushebeln, das im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung das bislang im SGB XII bestehende Ermessen zugunsten der Sicherung eines grundgesetzlich zu erbringenden menschenwürdigen Existenzminimums gelenkt hatte.

  

Anspruch nach fünfjährigem, gewöhnlichen Aufenthalt

 Nach dem Zeitraum eines fünfjährigen „gewöhnlichen Aufenthalts“ besteht abweichend davon ein Anspruch auf die regulären Leistungen des SGB II bzw. SGB XII. Dies soll nur dann gelten, wenn der Beginn des Fünfjahres-Zeitraums durch eine Wohnsitzanmeldung nachgewiesen werden kann und keine Feststellung über den Verlust oder das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts getroffen wurde. Zeiten eines ausreisepflichtigen Aufenthalts werden nicht mitgezählt.

 Meldepflicht an die Ausländerbehörden

 Flankiert wird diese Regelung durch eine obligatorische ausländerrechtliche Meldepflicht aller öffentlichen Stellen (außer Schulen und anderen Bildungs- und Erziehungseinrichtungen), wenn sie Kenntnis von der Beantragung von Sozialleistungen durch einen Ausländer erhalten.

 Diese Meldepflicht an die Ausländerbehörde bezieht sich auf Leistungsanträge nach SGB II oder XII von Ausländer*innen, die

·         über kein (unionsrechtliches) Aufenthaltsrecht verfügen,

·         über ein Aufenthaltsrecht nur zum Zweck der Arbeitsuche verfügen,

·         nur über ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO 492/2011 verfügen, oder

·         einen fünfjährigen gewöhnlichen Aufenthalt nachweisen können.

 Auch bei Anträgen auf die neuen „Überbrückungsleistungen“ nach SGB XII besteht eine Meldepflicht an die Ausländerbehörde.

 Abgesehen von Zweifeln, ob obligatorische und automatische Meldungen an die Ausländerbehörde europarechtskonform sind, stellt sich die Frage, welchen Sinn diese haben sollen: Denn jedenfalls für die Unionsbürger*innen mit einem Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche und diejenigen mit einem Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO 492/2011ist das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel keineswegs Voraussetzung für das Vorliegen des materiellen Aufenthaltsrechts. Somit kann ein Antrag auf Leistungen auch nicht zu einer Verlustfeststellung führen, die Meldung ergibt also keinen Sinn. Die Gesetzesbegründung gibt auf diese Unklarheit keine Antwort. Es ist zu befürchten, dass dies in der Praxis anders und somit rechtswidrig gehandhabt wird.

 Noch deutlicher wird dies, da auch bei Personen, die bereits über ein Daueraufenthaltsrecht (und damit über einen fünfjährigen nicht nur gewöhnlichen, sondern materiell freizügigkeitsberechtigten Aufenthalt) verfügen, die obligatorische Meldung an die Ausländerbehörden erfolgen muss. Denn wer fünf Jahre materiell freizügigkeitsberechtigt hier gelebt hat, hatte in dieser Zeit natürlich auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hier, so dass die Meldepflicht ebenfalls greift – obwohl sie keinerlei Folgen haben darf.

Die obligatorische Meldung an die Ausländerbehörden dürfte zudem in den allermeisten Fällen dazu führen, dass Personen, die aufgrund ihres fünfjährigen gewöhnlichen (aber nicht materiell freizügigkeitsberechtigten) Aufenthalts Leistungen beantragen, eine Verlustfeststellung befürchten müssen und die Neuregelung damit faktisch leer läuft. Denn trotz des verfestigten Aufenthalts von fünf Jahren und dem damit einhergehenden Leistungsanspruch sollen „ausländerrechtliche Bestimmungen unberührt“ bleiben.

 Gesetz stellt das Selbstverständnis Deutschlands als sozialer Rechtsstaat in Frage

 Insofern tangiert der vorliegende Gesetzentwurf auch das Selbstverständnis Deutschlands als sozialer Rechtsstaat, der eingebunden ist in eine Europäische Union der Offenen Grenzen.

 Der Gesetzentwurf ist: 

·         Sozialpolitisch fatal: Ein Leben ohne jegliche soziale Absicherung trifft die Schwächsten am stärksten und hat soziale Verelendung, Schutzlosigkeit und prekärste Lebensverhältnisse zur Folge. Die Kosten werden am Ende doch wieder die Kommunen bezahlen müssen – etwa im Rahmen der Jugendhilfe, gesundheitlichen Notversorgung oder ordnungsrechtlichen  Unterbringung.

·         Integrationspolitisch kontraproduktiv: Der Ausschluss von Leistungen des SGB II erschwert die Förderung von Teilhabe am Arbeitsmarkt. Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets sowie Sprachförderung sind dadurch ebenfalls faktisch ausgeschlossen.

·         Europapolitisch rückwärtsgewandt: Grenzkontrollen werden ins Sozialrecht ausgelagert und die europäische Freizügigkeit ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt. Das Recht auf Freizügigkeit muss jedoch sozial flankiert werden.

·         Grundgesetzwidrig: Die staatliche Pflicht zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums sowie die bislang dazu ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts werden durch den Gesetzentwurf  ignoriert. Die Umsetzung des Gesetzentwurfs hätte eine migrationspolitische Relativierung der Menschenwürde zur Folge.

·         In Teilen europarechtswidrig: Jedenfalls für den Personenkreis mit einem Aufenthaltsrecht als Kinder früherer Arbeitnehmer*innen (Art. 10 VO 492/2011) sind die vorgesehenen Leistungsausschlüsse nicht mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Europarechts vereinbar.

·         Völkerrechtswidrig: Die Verweigerung sogar des physischen Existenzminimums ist weder mit Art. 11 des UN-Sozialpakts noch mit Art. 13 der Europäischen Sozialcharta vereinbar.

·         Logisch inkonsistent: Eine Verschlechterung des Aufenthaltsstatus hätte nach dem Gesetzentwurf eine Verbesserung des sozialen Status zur Folge. Nicht ausreisepflichtige Unionsbürger*innen hätten keinerlei Anspruch auf existenzsichernde Sozialleistungen, während nach formaler Feststellung der Ausreisepflicht Ansprüche bestehen (dann nach AsylbLG). Zudem würden die Leistungsausschlüsse des SGB XII nur für Unionsbürger*innen aus den osteuropäischen EU-Staaten gelten, nicht aber für Personen aus den (überwiegend westeuropäischen) Staaten des Europäischen Fürsorgeabkommens.

Was heißt das für die Beratungspraxis?

Die Leistungsansprüche betreffen – anders als in den Medien teilweise vermittelt – nicht alle Unionsbürger*innen. Auch weiterhin haben Unionsbürger*innen sowie deren Familienangehörige mit einem kleinen Job Anspruch auf aufstockende Leistungen nach SGB II. Auch weiterhin bestehen Leistungsansprüche für Personen, die ihre Arbeit unfreiwillig verloren haben – entweder für sechs Monate oder sogar dauerhaft.

Zudem haben weiterhin alle Staatsangehörigen der Staaten des Europäischen Fürsorgeabkommens einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII in gesetzlicher Höhe, soweit sie als Arbeitsuchende oder nach der VO 492/2011 als Kinder früherer Arbeitnehmer*innen in Schule oder Ausbildung über ein Aufenthaltsrecht verfügen. 

Gegen die Ablehnung von Leistungsansprüchen sollten weiterhin Eilanträge vor den Sozialgerichten gestellt werden. Es ist zu erwarten, dass viele Sozialgerichte wegen der offenkundigen Verfassungswidrigkeit und teilweisen Europarechtswidrigkeit weiterhin vorläufige Leistungen zusprechen werden. Ein Ansatz dafür ist die Härtefallregelung, die die „Überbrückungsleistungen“ zur in besonderen Fällen und zur Überwindung einer besonderen Härte auf die gesetzliche Höhe ausweitet und auch länger als einen Monat erbracht werden muss, wenn dies „zur Überwindung einer zeitlich befristeten Bedarfslage erforderlich ist.

Eine tabellarische Übersicht zu den künftigen Leistungsansprüchen und
-ausschlüssen gibt es hier zum Download.

Hier gibt es noch mehr Infos:



Zusammenstellung aller Stellungnahmen zur Öffentlichen Anhörung im Sozialausschuss am 28. November 2016

Vor allem zu erwähnen sind die Stellungnahmen von:

·         Paritätischer Gesamtverband e.V. (S. 48)

·         Diakonie Deutschland (S. 42)

·         Deutscher Gewerkschaftsbund (S. 28)

·         Neue Richtervereinigung e.V. (S. 63)

·         Prof. Uwe Berlit (Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht; S. 55)

Dieser Text als pdf, inkl. ausführlicher Begründungen der Kritikpunkte

Autor: Claudius Voigt, GGUA Münster


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