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Bremen: Protest gegen Zwangsumzüge und Leistungskürzungen nimmt zu

Bremen: Protest gegen Zwangsumzüge und Leistungskürzungen nimmt zu.

Am 15. März sprengten 100 demonstrierende ALG II EmpfängerInnen eine Sitzung der Deputation für Soziales in Bremen. Die Sozialdeputation ist ein Parlamentsausschuss der bremischen Bürgerschaft. Diese beschließt u.a. die Verwaltungsanweisungen zu den Mietobergrenzen die in Bremen für EmpfängerInnen von ALG II, Sozialhilfe und Grundsicherung (100 000 Menschen in Bremen). Die Sozialsenatorin hatte vergeblich die Demonstrierenden aufgefordert den Saal zu verlassen und 5 Menschen zu benennen, die die Anliegen der Demonstrierenden vortragen sollten. Als die Anwesenden dies ablehnten und alle gemeinsam eine erneute Debatte über die Anhebung der Mietobergrenzen forderten, brach die Senatorin die Sitzung ab und die Mitglieder der Koalitionsparteien SPD und CDU verließen den Saal.

Diese Deputationssitzung war bereits die dritte in Folge, die sich mit Demonstrationen von bis zu 130 Menschen konfrontiert sah. Auf den letzten Deputationssitzungen, zuletzt Anfang Februar, gelang es den Demonstrierenden den Parlamentsabgeordneten ein zweistündige Debatte aufzudrängen. An der Beschlusslage der Abgeordneten aus SPD und CDU, die die Landesregierung stellen, hat dies allerdings nichts ändern können.

Die Demonstrierenden haben sich verabredet, auch die nächsten Sitzungen im monatlichen Rhythmus mit erneuten Demonstrationen und Kundgebungen zu besuchen. Darüber hinaus herrscht Einigkeit im Wahlkampf zur Bremischen Bürgerschaft massiv einzugreifen und die Stadtpolitiker an Infoständen und ihren Wahlveranstaltungen mit ihren Anliegen massiv zu behelligen.

Bremen unter Bundesniveau

Gemessen an den Obergrenzenregelungen anderer Städte und Landkreise im Bundesgebiet ist, unter Berücksichtigung der unterschiedlichen örtlichen Mietniveaus festzustellen, dass in Bremen eine extrem geringe Obergrenze für die Bewilligung von ALG II Mieten gilt.

Dabei wird von der senatorischen Behörde argumentiert, man bewege sich durchaus im Rahmen der durch Bundesrechtsprechung als angemessen anzusehenden Mieten im unteren Preissegment. Beim genaueren Hinsehen, wird jedoch deutlich, dass diese Argumentation nicht stimmig ist. Die Bremer Verwaltungsanweisung zur Angemessenheit von Mieten im SGB II und SGB XII (Sozialhilfe, Grundsicherung und Asylbewerberleistungsgesetz) schließt die Gewährung der Kosten der Baujahresstufe ab 1992 im Prinzip aus.

Baujahrsstufen
Bis 1965 bis 1991 ab 1992

1 Person 245 265 325

Dabei wird sich regelmäßig auf eine Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 1997 bezogen.

Diese Begründung ist jedoch längst überholt. Die in der Verwaltungsanweisung getroffene Festlegung, dass mindestens zwei Modernisierungsmaßnahmen (Fenster, Heizung, Isolierung, Bäder etc) eine Verjüngung des Baujahres in die nächste Altersstufe rechtfertigen entspricht der Realität. Mit jeder umfänglichen Modernisierungsmaßnahme ist es den Vermietern möglich den Mietpreis anzuheben – was auch in der Praxis, insbesondere von den großen Wohnungsbaugesellschaften umgesetzt wird. Dabei ist jedoch zu beobachten, dass diese Modernisierungen regelmäßig dazu führen, die in Bremen definierte Obergrenze aus der mittleren Baujahresspalte mit der neuen Miete zu überschreiten.

Damit hat sich die anlässlich der Veränderung der Wohngeldtabelle 2001, geänderte Bremer Verwaltungspraxis zu einem Dinosaurier entwickelt. Der Ausschluss der Neubautabellenwerte ab 1992, incl. Modernisierung, trägt faktisch zur Bildung von Gettobezirken bei. In diesen noch vorhandenen Billigwohnquartieren sind Modernisierungen kaum umsetzbar, da sie nicht auf den Mietpreis umlegbar sind. Dies führt in der Praxis dazu, dass zwar einerseits die Bruttokaltmieten im angemessenen Bereich liegen, die Wohnungen jedoch erhebliche Modernisierungsstaus aufweisen, aber dadurch andererseits die Verbrauchskosten konstant steigen. Beispiele dafür sind die Lüssumer Heide, hier gibt die GEWOBA die Heizkostendurchschnittswerte mit 1,43 EUR pro qm an oder die von der Dalkia beheizte Wohnanlage in der Clamersdorfer Str. Hier liegt der Durchschnittsheizwert der Fernwärme knapp unter 2 EUR pro qm und ist von den BewohnerInnen mit den von der Behörde verordneten 1,10 EUR pro qm nicht zu bestreiten.

Bremer verfügt wie andere Städte auch über keinen qualifizierten Mietspiegel und wendet daher als Bemessung der angemessenen Mietkosten die Tabelle nach § 8 Wohngeldgesetz, ohne die Stufe III – Neubau oder Modernisierung nach 1992, an. Die bundesweite Rechtssprechung, insbesondere der Landessozialgerichte Niedersachsen/ Bremen und Bayern geht bei vergleichbaren Kommunen (ohne Mietspiegel) dazu über, ausschließlich die rechte Spalte der Wohngeldtabelle (Neubauten ab 1992) für alle Wohnungen zum Maßstab zu nehmen. Im niedersächsischen Umland ist die Altbaustufe vor 1966 längst aus den Anweisungen der ALG II Behörden verbannt. Andere Großstädte wenden die Wohngeldtabelle vollständig an oder verfügen über Einheitswerte, unabhängig vom Baujahr, die aber im Prinzip unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Miethöhen am Ort auf dem Wert der rechten Spalte liegen.

Bremen hat sich zur Niedrigobergrenzeninsel entwickelt.

Eine eigene Untersuchung der Sozialbehörde stellte fest, dass bisher ca. 6500 Bremer ALG III Haushalte mit Überschreitungen der Obergrenzen von mehr als 20 – 30 Prozent angeschrieben wurden, mit der Aufforderung die Mieten zu senken oder andernfalls mit einer Reduzierung der KDU Leistung auf die Obergrenzen rechnen zu müssen. In den nächsten Monaten werden weitere 5 – 6000 Haushalte oberhalb einer noch akzeptierten 10 Prozent Grenze folgen. Diesen Haushalten stehen allenfalls 1000 angemessene Wohnungen gegenüber die innerhalb eines Jahres zu Vermietung anstehen. Ca. 70 Prozent dieser Wohnungen liegen in Stadtteilen, die schon jetzt einen Anteil von ALG II EmpfängerInnen von über 20 Prozent aufweisen. In diese Hochhaussiedlungen an den Stadträndern möchte freiwillig niemand ziehen.

Politisch/ mathematisch ist für einen Zweitklässler klar – Mehr als 10 000 Haushalte passen nicht in 1000 freie Wohnungen.

Rechtlich, gemessen an der bisherigen Rechtsprechung des Bremer Verwaltungsgerichts ( nur in Bremen werden ALG II Klagen vor dem Verwaltungsgericht ausgetragen) läuft der Hase jedoch anders herum – Jeder einzelne, der auf Übernahme seiner tatsächlichen Mietkosten klagt, muss nachweisen, dass sie/er sich ausreichend um eine angemessene Wohnung bemüht hat. Kann dieser Nachweis nicht schlüssig dargelegt werden, wird regelmäßig die Klage abgewiesen – immer mit dem Hinweis: Irgendwo in der Stadt gibt es noch eine freie angemessenen Wohnung.

Ein politisches Problem wird verrechtlicht und damit individualisiert. Mit dem Ergebnis: 10 Menschen streiten sich um eine Wohnung – nur einer kann sie bekommen – aber 7 bekommen eine Kürzung, weil sie den Nachweis, sich genau um diese Wohnung bemüht zu haben, nicht beweisbar machen können.

Marktwirtschaft und Mietpreise

Die ehemaligen linken Bremer JUSO-Führer, die inzwischen in der Spitze der Sozialbehörde angekommen sind (z.B. Staatsrat Schuster), argumentieren zunächst auf einer nachvollziehbaren Ebene. Mit der Anhebung der Mietobergrenzen auf breiter Ebene steigt auch das Mietniveau in der Stadt an. Damit haben sie zweifelsfrei recht. Dies war bereits 2001 bei der Anhebung der Mietobergrenzen nach § 8 WoGG zu beobachten, Neuvermietungen fanden sofort zu den höheren Mietpreisen statt und in zahlreichen Fällen gab es Mietanhebungen. Damit würde sich die Zahl der Leistungsberechtigten schlagartig erhöhen, ohne dass die Betroffenen ihre Lebenssituation verbessern würden, denn Mietkosten sind für LeistungsbezieherInnen nur ein durchlaufender Posten. Nutznießer wären vor allem die privaten Vermieter. Allerdings ist das perfide an dieser Strategie – die schwächsten in der Gesellschaft werden als Kanonenfutter gegen die Miethaie ins Feld geschickt. Dabei sind die ALG II BezieherInnen ohne reale Chance in diesem Strategiespiel zu überleben. Zwischen der Position des Staates - wir drücken mit niedrigen Obergrenzen das Mietniveau in der Stadt - und der Gewinnstrategie des Wohnungskapitals durch hohe Mieten die Profite zu steigern sind sie chancenlos verloren. ALG II BezieherInnen werden zwischen zwei mächtigen Mühlsteinen zermahlen.

Politische Alternativen sind machbar

Bremen verfügt als eine der wenigen deutschen Kommunen noch über eine Wohnungsbaugesellschaft, die GEWOBA mit 31 000 Wohnungen in der Stadt Bremen. Sie ist so groß wie alle anderen Gesellschaften zusammen. Allerdings hat sie das höchst Mietniveau und gemessen an ihrem Wohnungsbestand mit 20 Prozent ALG II Obergrenzen angemessenen Wohnungen den relativ geringsten Bestand billiger Wohnungen. Dies war Ziel der Politik, denn die GEWOBA sollte an die Börse. Gute Aktiengewinne lassen sich aber nun einmal nur mit Profiten und durch hohen Mieten erzielen.

Aktivitäten der bremischen Politik Einfluss auf Mietsenkungen bei der GEWOBA zu nehmen, sind allerdings nicht zu beobachten.

Somit bleibt nichts als der Kampf die Mietobergrenzen anzuheben und allen ALG II BezieherInnen einen Bestandsschutz für ihre jetzigen Kosten der Unterkunft zu gewähren.

In Bremen werden die Demonstrationen gegen die Mietzahlungssenkungen und Zwangsumzüge getragen von den gewerkschaftlichen Erwerbslosengruppen der IG Metall und verdi, den KollegInnen der Montagsdemo, der Solidarischen Hilfe und dem Sozialplenum.

Die nächste Demonstration findet statt am Donnerstag den 19. April um 14 Uhr Hauptbahnhof und um 15 Uhr zur Deputationssitzung „Siemenshochhaus“

Die staatlich geförderten Beratungseinrichtungen, Aktionsgemeinschaft arbeitsloser Bürger, (AGAB) die kirchlichen Einrichtungen Arbeit und Zukunft sowie das Arbeitslosenzentrum Tennever, haben sich an den seit Monaten dauernden Protesten nicht beteiligt.

Herbert Thomsen

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